Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
müde.
Sophie saß am Computer und
beantwortete E-Mails. Sie sah nur kurz auf, lächelte ihn an und fragte: »Wollen
wir nach deiner rituellen Waschung essen gehen? Wenn du schon mal vor acht nach
Hause kommst, sollten wir das nutzen.«
Hackenholt setzte gerade zu
einem Nicken an, als ihm Sophies beiläufiger Tonfall auffiel. Außerdem sah sie
ihn normalerweise an, wenn sie mit ihm sprach. Sofort war er auf der Hut.
»Woran hattest du denn
gedacht?«, fragte er, als müsste er es sich gut überlegen, ob er am heutigen
Abend wirklich noch einmal wegwollte. Um keinen Preis würde er sich zu etwas
Exotischem überreden lassen.
Sophie blickte auf und lachte
lauthals los. Sie hatte seine Gedanken erraten. »Keine Sorge. Ich will nicht
schon wieder zum Afrikaner, wobei das Essen sehr, sehr lecker war und ich
persönlich sofort wieder hingehen würde. Ich hatte vor, dir ein gemütliches
Restaurant zu zeigen. Einen ehemaligen Landgasthof in Großreuth hinter der
Veste, den ›Lutzgarten‹. Den gibt es schon seit über dreihundert Jahren, und
die Küche ist bodenständig, fränkisch. Besonders zu empfehlen sind die Lendchen
und das Schnitzel, aber natürlich stehen auch Bratwürste und Schäufele auf der
Karte.«
»Einverstanden! Ich gehe nur
schnell duschen, und dann können wir los. Magst du einen Tisch reservieren?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Ich
glaube nicht, dass das nötig ist. So kurz vor den Sommerferien und noch dazu
unter der Woche herrscht dort am Abend sicher kein Andrang. Außerdem gibt es
einen großen Garten, da werden wir schon ein Plätzchen finden.«
Eine Viertelstunde später
machten sie sich mit ihren Fahrrädern auf den Weg. Von der Meuschelstraße aus
brauchten sie gute zehn Minuten. Ganz so leer, wie Sophie vermutet hatte, war
es im »Lutzgarten« allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Tische draußen waren
alle besetzt, weshalb sie sich für einen Platz im Inneren entschieden. Hackenholt
bestaunte sofort das altertümliche Bild der »Großreuther Morgengesellschaft«,
das gleich rechts neben der Tür in der Gaststube über der hölzernen
Wandvertäfelung hing. Es zeigte viele gut gekleidete Herren und zwei weibliche
Servierdamen, die vor dem Anwesen saßen.
Sophie stellte sich neben ihn.
»Die ›Großreuther Morgengesellschaft‹ ist Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet
worden. Sie war eine Vereinigung honoriger Nürnberger Bürger, die sich hier
allmorgendlich zum gemeinsamen Kaffee versammelten.« Sie machte eine Pause,
bevor sie fortfuhr. »Dazu musst du dir vorstellen, dass Großreuth damals noch
ein richtiges Dorf war. Bis zur Burg gab es nur Felder und Wiesen. Jeden Morgen
sind die Männer um sechs Uhr von der Stadt zu Fuß bis hier herausgelaufen, denn
ein Bus existierte damals natürlich noch nicht. Sie kamen sommers wie winters
zusammen, heute wäre derlei undenkbar.«
»Woher weißt du das alles?«
Wieder einmal war Hackenholt über das Wissen seiner Freundin erstaunt.
»Von meiner Großtante. Sie hat
oft davon erzählt, wie es früher hier war.« Als sie seinen fragenden Blick sah,
fügte sie hinzu: »Die Familie meiner Mutter stammt aus Großreuth.« Damit
rutschte sie auf die Eckbank unter dem Bild und überließ Hackenholt den Stuhl.
Da Sophie wusste, wie sehr er sich für Geschichte interessierte, erzählte sie
weiter, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. »Großreuth wurde
erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt, aber es ist wahrscheinlich, dass es auf
eine Rodung des königlichen Wirtschaftshofes aus dem 11. oder 12. Jahrhundert
zurückgeht. In den Markgrafenkriegen und dem Dreißigjährigen Krieg wurde das
Dorf weitgehend zerstört, und 1796 wurde Großreuth dann sogar preußisch!«
Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Aber es sollte noch schlimmer kommen,
denn 1806 wurden wir ja bekanntlich bayerisch.« Sophie wand sich, als würde ihr
ein Schauer den Rücken hinunterlaufen. Als echte Fränkin war sie natürlich
antibayerisch eingestellt. »Die Eingemeindung nach Nürnberg erfolgte übrigens
erst 1899.«
Nachdem sie vorzüglich gegessen
hatten, gingen sie zu ihren Fahrrädern zurück.
»Lass uns die Großreuther Straße
runterlaufen, dann kann ich dir ein Kleinod zeigen«, bat Sophie.
Eine Weile schlenderten sie
satt, zufrieden und schweigend die Dorfstraße entlang, die sich dadurch
auszeichnete, dass sie keinen erhöhten Bürgersteig besaß: Der Fußgängerbereich
war lediglich durch eine Regenrinne von der Fahrbahn abgetrennt. Auch eine
Mittellinie
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