Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
Fliegennetzhaube abgedeckt. Solche Dinger hatte Hackenholt seit den
achtziger Jahren nirgendwo mehr gesehen. Auf einem Teller lagen Hühnerbeine,
auf einem anderen Fleischküchle und auf dem dritten ein Schweinebraten –
allerdings ohne Soße. Daneben stand ein Gugelhupf. Als Hackenholt neugierig in
den Kühlschrank schaute, fand er dort hübsch aufgereiht ein Dutzend
mittelgroßer Marmeladengläser. Die eine Hälfte war mit Vanille-, die andere mit
Schokoladenpudding gefüllt. Am vordersten Glas klebte ein gelber Zettel: »Finger
weg!!!«
Enttäuscht machte er die
Kühlschranktür wieder zu. Auf dem Tisch hatte kein solcher Zettel gelegen,
oder? Er sah noch einmal nach. Tatsächlich: nichts. Hieß das nun, er durfte
sich an den Leckereien gütlich tun? Doch irgendwie traute er sich nicht, denn
dass das nicht das morgige sonntägliche Mittagessen war, das war klar. Was da
vor ihm lag, hätte für eine Hundertschaft gereicht. Na ja, zumindest für einen
Einsatzzug. Andersherum: Polizisten standen ja nun mal im Ruf, kräftig
zuzuschlagen, wenn es bei einer Feier etwas umsonst gab. Also reichte es
vielleicht doch nur für ein paar hungrige Mäuler? Von diesem Gedanken
inspiriert zählte Hackenholt die Fleischküchle. Sechzehn. Und Hühnerschenkel?
Zwölf. Hm! Konnte er es wagen, ein Fleischküchle zu stibitzen? Als er sich eins
unter der Abdeckung hervorholte, verkleinerte er die entstandene Lücke, indem
er die zwei daneben ein bisschen näher zusammenschob. Es fiel überhaupt nicht
auf. Doch auch nachdem er das Küchlein gegessen hatte, war er noch immer hungrig.
Ob er vielleicht ein zweites …?
Die Entscheidung wurde ihm
abgenommen, als er hörte, wie ein Schlüssel in die Wohnungstür gesteckt wurde.
Schnell öffnete er den Kühlschrank, holte sich ein Joghurt heraus und setzte
sich an den Küchentisch, damit er sich nicht ganz so ertappt fühlte. Sophie kam
herein, warf ihm einen kurzen Blick zu und ging zum Kühlschrank.
»Du hast vergessen anzurufen«,
sagte sie leise. »Bist du jetzt erst heimgekommen?«
»Hm-mh. Vor zehn Minuten.« Seine
Stimme klang schuldbewusst, aber nicht wegen des Fleischküchles. »Es tut mir
leid, Sophie. Die Zeit ist heute einfach mal wieder verflogen. Ich habe nicht
auf die Uhr geschaut, und plötzlich war der Nachmittag vorbei.« Er stand auf
und ging zur Spüle hinüber, wo sie sich noch immer umständlich ein Glas Wasser
einschenkte. »Warst du weg?«
Sie nickte, ohne sich zu ihm
umzuwenden.
»Es tut mir wirklich leid,
Schatz.« Sanft legte er seine Hände auf ihre Schultern, küsste sie auf den
Nacken und drehte sie dann langsam zu sich um. »Morgen gehe ich den ganzen Tag
nicht ins Präsidium und komme auch mit zum Klassik Open Air, wenn du willst.
Versprochen!« Er schloss sie fest in die Arme und vergrub sein Gesicht in ihren
Haaren. Sie dufteten leicht nach ihrem Parfum. Er zog sie noch ein bisschen fester
an sich. »Und in fünfeinhalb Wochen fängt auch endlich mein Urlaub an, dann
fahren wir weg – wie ausgemacht. Nach Irland. Komme, was wolle.«
Er küsste sie auf dem ganzen Weg
hinüber ins Schlafzimmer.
Sonntag & Montag
Am Montagmorgen kehrte
Hackenholt erholt in den Dienst zurück, auch wenn er am Sonntagabend kurzzeitig
das Gefühl gehabt hatte, in einen gigantischen Betriebsausflug geraten zu sein,
an dem das gesamte Polizeipräsidium teilnahm.
Sophie und er hatten sich
zunächst einen faulen Tag gegönnt: Erst waren sie an den Happurger Baggersee
gefahren und am späten Nachmittag zum Luitpoldhain. Zu dem Zeitpunkt war
Hackenholt schon richtig neugierig gewesen, ob all die Dinge, die ihm über das
Klassik Open Air erzählt worden waren, auch wirklich stimmten. So ganz konnte
er es sich noch immer nicht vorstellen, dass die auf den ersten Blick oft so
spröde wirkenden Franken, die sich in einer Gastwirtschaft grundsätzlich allein
an einen Tisch setzten, bei dieser Veranstaltung plötzlich über ihren eigenen
Schatten springen und ihre zwischenmenschlichen Berührungsängste überwinden
sollten.
Doch man hatte ihm nicht zu viel
versprochen. Das Open Air war tatsächlich das von der Presse beschriebene
Woodstock der klassischen Musik: Den Solisten wurde zugejubelt, den Stücken
viel Applaus gespendet. Die Menschen lagen, saßen und tafelten dicht an dicht.
Im Gras, auf mitgebrachten Campingstühlen oder sogar an richtigen Tischen. Man
unterhielt sich und scherzte miteinander. Unbekannte wurden nicht nur zu
Antipasti eingeladen, man stieß auch mit einem
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