Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
wiederzukommen, aber
dann klang es plötzlich so, als würden sie streiten. Ich wollte Jonas helfen,
aber wenn ich auf einmal einfach so in der Laube gestanden wäre, hätte das bei
seinem Vater ganz sicher nicht zur Deeskalation beigetragen. Also bin ich
schnell aus dem Garten gelaufen und habe von außen am Tor gerüttelt und laut
nach Jonas gerufen. Falls sein Vater blöd schauen sollte, hätte ich behaupten
können, dass ich Jonas und seinen Großvater letztes Jahr mal im Garten besucht
hätte und gerade nur zufällig vorbeigekommen bin. Jedenfalls hat der Streit
daraufhin sofort aufgehört. Ich habe trotzdem weitergerufen, und schließlich
kam Jonas ans Tor. Er hat es nur einen Spaltbreit aufgemacht, sodass ich nicht
hineinschauen konnte. Ich glaube, außer ihm stand noch jemand da.« Sara machte
eine Pause.
»Wie kommst du darauf?«
»Weil …«, sie schluckte, »weil
er mich angeschrien hat. ›Hau ab, du blöde Kuh! Du hast hier nichts verloren!
Verzieh dich!‹« Wieder schluckte sie. »Unter normalen Umständen hätte Jonas so
etwas niemals zu mir gesagt. Verstehen Sie? Wir sind gute Freunde. Und dann
waren da noch seine Augen. Er hatte sie weit aufgerissen, und … ich habe ihm
angesehen, dass er Angst hatte. Ich meine richtige Angst.« Sie rieb sich mit
den Fingern über die Stirn, als würden ihr die Gedanken Schmerzen bereiten.
»Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als zurückzubrüllen, dass ich sowieso
nichts von ihm will, weil er mir zu doof ist, und ich eh nur aus dem
Nachbargarten rübergekommen bin, weil mich meine Eltern geschickt haben. Dann
habe ich noch gesagt, der Mann vom Kleingartenverein sei bei uns und würde in
fünf Minuten auch zu ihm rüberkommen. Wegen der Pacht.«
Hackenholt bewunderte insgeheim
die geistige Wendigkeit des Mädchens.
»Ich bin natürlich nicht
weggegangen, ich konnte Jonas ja nicht alleine lassen. Also habe ich mich auf
der anderen Straßenseite hinter den Bäumen versteckt und auf die Uhr geschaut.
Nach ein paar Minuten sind zwei Typen durch das Tor herausgekommen und haben es
hinter sich zugezogen – Jonas war nicht dabei. Ich habe einen ziemlichen
Schrecken bekommen.
Sobald sie außer Sichtweite
waren, bin ich wieder zurück zu dem Loch im Zaun geschlichen und
hindurchgestiegen. Zu meiner Erleichterung saß Jonas auf der Schwelle der
Laube. Er hatte das Gesicht in seinen Händen vergraben und hat mich gar nicht
wahrgenommen. Erst als ich fast vor ihm stand, hat er mich gehört und ist
furchtbar erschrocken. Er wollte sofort wissen, ob mich jemand gesehen hat, als
ich in den Garten geklettert bin, aber die Typen waren ja schon längst weg,
bevor ich aus meinem Versteck rausgekommen bin. Ich habe ihn natürlich gefragt,
was los war und was die von ihm gewollt haben, aber er hat nur den Kopf
geschüttelt und immer wieder gesagt, dass ich mich da raushalten soll, damit
ich nicht mit hineingezogen werde. Durch die offene Tür zur Gartenlaube habe
ich gesehen, dass auf dem Tapeziertisch Messzylinder, Mörser, ph-Papier und so
weiter herumlagen. Es sah aus wie die Vorbereitungen für einen Versuch im
Chemieunterricht. Als ich ihn danach fragte, ist er total panisch geworden. Er
hat mir das Versprechen abgenommen, nie wieder in den Garten zu kommen und den
Tag und alles, was ich gesehen habe, aus meinem Gedächtnis zu streichen.« Sie
machte eine Pause und dachte nach. »Dabei war er nicht unfreundlich, hat sich
sogar für das, was er am Tor zu mir gesagt hatte, entschuldigt. Ich sollte
einfach nicht in die Sache mit hineingezogen werden. Das war ihm wichtig. Ich
habe mich auch daran gehalten, weil es mir wie ein Vertrauensbruch vorgekommen
wäre, wenn ich heimlich angefangen hätte rumzuschnüffeln. Aber in der Schule
habe ich ihn beobachtet. Er hat sich noch stärker als früher von allen
zurückgezogen. Auch von mir. Außerdem wurde er immer nervöser, richtiggehend
paranoid. Er hat sich andauernd umgedreht, wenn er mit mir sprach. Vorletzte
Woche, also in der Woche, bevor er verschwunden ist, war es besonders schlimm.«
Sie hielt kurz inne. »Am Dienstag hat er sich dann in beiden Pausen mein Handy
zum Telefonieren ausgeliehen. Er wurde an dem Tag immer unruhiger, bis er am
Mittag nach Schulschluss plötzlich an der Straßenbahnhaltestelle vor mir stand.
Er war total außer sich und hat gesagt, dass er es nicht mehr länger aushält.
In beiden Pausen hatte er vergeblich versucht, unseren Betreuer von den
Coolridern zu erreichen. Als Nächstes wollte er in
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