Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
ihm erstreckte sich nichts als das Grün der
Baumwipfel des Reichswaldes. Er bedauerte, dass es ein diesiger Tag war. An
einem klaren musste man von hier aus eine ausgezeichnete Fernsicht haben. Er
wandte sich um und folgte Baumann zu den Wohnungstüren.
Familie Kusnezow wohnte am Ende
des Flurs. Hackenholt läutete. Hinter der Tür ertönten Schritte, dann wurde sie
einen Spalt weit geöffnet.
»Polizei!« Hackenholt hielt
seinen Ausweis hoch. »Wir möchten mit Aleksandr Kusnezow sprechen.«
Die Tür ging vollständig auf und
gab den Blick auf eine Frau frei: Ende vierzig und sehr gepflegt. Ihr schmales
Gesicht war unauffällig geschminkt, das hellbraune Haar kurz geschnitten. »Mein
Sohn Aleksandr ist nicht hier. Aber Sie wollen sicher hereinkommen und selbst
nachschauen. Ich weiß nicht, wo er steckt. Ich bin gerade erst von der Arbeit
heimgekommen.« Sie wies auf einen kleinen Aktenkoffer. Hackenholt bemerkte,
dass sie auffallend gut Deutsch sprach.
Als Erstes führte sie die
Beamten durch die Wohnung, damit sie sich davon überzeugen konnten, dass sie
die Wahrheit gesagt hatte und Aleksandr nicht zu Hause war. Zuletzt betraten
sie gemeinsam das sehr ordentliche Wohnzimmer. Es war nicht übermäßig groß,
dafür aber in einer hellen Pastellfarbe gestrichen. Der luftige, raumgebende
Effekt wurde jedoch durch einen kolossalen Wohnzimmerschrank, der eine ganze
Seite des Zimmers einnahm, sofort wieder zunichtegemacht. An der Wand gleich
neben der Tür hingen über dem Esstisch mehrere Familienfotos. Sie waren mit
Stecknadeln an eine große Korkplatte geheftet. Auf dem Sofa lag ein Mann in
einem für diese Jahreszeit viel zu dicken Strickpullover und einer Jogginghose.
Als er die Besucher sah, schaltete er den Fernseher auf lautlos, in dem zuvor
lautstark eine russische Sendung gelaufen war, und erhob sich. Er reichte den
Beamten die Hand und stellte sich vor: Herr Kusnezow, Aleksandrs Vater.
»Bitte, Sie nehmen Platz. Sie
wollen trinken etwas?« Sein Deutsch war wesentlich schlechter als das seiner
Frau, und er sprach mit starkem Akzent.
»Nein, vielen Dank, das ist
wirklich sehr freundlich von Ihnen«, lehnte Hackenholt höflich ab. »Wir möchten
gerne mit Ihrem Sohn Aleksandr sprechen. Wo können wir ihn denn finden?«
»Er nicht wieder gemacht etwas
Verbotenes, oder?«, fragte der Mann gedehnt und warf seiner Frau einen
ängstlichen Blick zu, der Hackenholt nicht entging.
»Wir wollen mit ihm nur über
eine Bekannte reden. Ljudmila Orlowa. Kennen Sie das Mädchen?«
»Diese Nutte!«, fauchte Frau
Kusnezow. »Sie hat einen schlechten Einfluss auf Aleksandr. Ich habe ihm von
Anfang an gesagt, dass sie kein Umgang für ihn ist. Statt für die Universität
zu lernen, geht sie auf den Strich.«
Hackenholt nickte
beschwichtigend. »Trotzdem müssen wir mit Ihrem Sohn sprechen. Hat er eine
Arbeit?«
Frau Kusnezow schüttelte den
Kopf. »Er bekommt einfach keine Lehrstelle, obwohl er wirklich gut Deutsch
spricht, wenn er sich ein bisschen bemüht. Aber seine Schulnoten haben leider
immer zu wünschen übrig gelassen.«
Herr Kusnezow stand auf und ging
zur Wohnzimmertür hinüber. »Ich brauchen ein Glas Wasser. Sie wirklich nichts
wollen trinken, Herr Polizist? Aleksandr ist bei Freund in Duisburg. Für
Urlaub.« Seine Stimme war lauter und deutlicher geworden. Er war noch mehrere
Schritte von der Tür entfernt, als Hackenholt plötzlich einen Luftzug spürte.
In Sekundenbruchteilen verstand er, was gerade vor sich ging. Herr Kusnezow
hatte gehört, wie sein Sohn die Wohnungstür aufsperrte, und wollte ihn warnen.
Hackenholt sprang vom Sofa auf und war mit zwei Schritten bei der angelehnten
Zimmertür. Der Vater versuchte sich ihm in den Weg zu stellen, doch der
Ermittler schubste ihn zur Seite. Die Tür zum Treppenhaus stand sperrangelweit
offen. Hackenholt rannte durch die Diele hinaus auf den Flur. Als er den Aufzug
erreichte, schloss sich der gerade mit einem Quietschen. Der Ermittler
erhaschte nur noch einen kurzen Blick auf einen blonden Mann mit sehr kurz
geschorenen Haaren. Er trug eine Jogginghose und eine Lederjacke. Hinter sich
hörte Hackenholt Baumanns Stimme, verstand jedoch nicht, was seine Kollegin
rief. Ohne nachzudenken, nahm er die Verfolgung auf. Wenn er den jungen Mann
erwischen wollte, musste er den Lift zum Stehen bringen, indem er den
Aufzugsknopf im darunterliegenden Stockwerk drückte, bevor der Lift durchfuhr.
Aus den Augenwinkeln sah er Baumann telefonieren. Wahrscheinlich rief
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