Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
Lauf zur Polizei gehen. Ich
habe ihn gefragt, warum und ob ich ihm helfen kann und ihn begleiten soll, aber
er hat nur den Kopf geschüttelt. Dann ist meine Straßenbahn gekommen, ich bin
eingestiegen und …« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ich denke
jetzt immer, wenn ich nicht eingestiegen wäre, was wäre dann passiert? Wäre
Jonas dann nicht verschwunden?« Hilfesuchend sah sie Hackenholt an.
»Ich kann deine Gedanken gut
verstehen, aber das ist der falsche Weg. Du hast ihm deine Hilfe angeboten, und
er hat sie abgelehnt. Was hättest du noch tun können? Er wollte das alleine zum
Abschluss bringen.« Insgeheim hoffte Hackenholt, Jonas’ Verschwinden bedeutete
nicht, dass er, statt bei der Polizei anzurufen, ein anderes Ende für sich
gewählt hatte. Doch zunächst versuchte der Hauptkommissar sich wieder auf Sara
zu konzentrieren. »Kannst du mir die beiden Typen beschreiben, die aus dem
Garten gekommen sind?«
Sara nickte und wischte sich mit
dem Handrücken übers Gesicht. Hackenholt holte ein Päckchen Taschentücher aus
seiner Schreibtischschublade und bot es ihr an.
»Dan– hicks. Danke.« Sie hatte
Schluckauf bekommen. Hackenholt stand auf und holte ihr ein Glas
Leitungswasser. Sie leerte es in vielen kleinen Schlucken, dann beantwortete
sie endlich seine Frage. »Ja, ich kann die beiden beschreiben, aber ich habe sie
noch nie zuvor gesehen. Sie sahen sich ziemlich ähnlich. Beide hatten ganz kurz
geschorene Haare, fast wie Skins, auch wenn es keine waren. Als sie weggegangen
sind, haben sie sich in irgendeiner fremden Sprache unterhalten, die ich nicht
verstehen konnte.«
»Wie groß und wie alt waren sie
denn?«
»Der eine war etwa so groß wie
Sie.« Sara musterte Hackenholt. »Und auch sehr schlank, aber nicht so dünn wie
Ihr Kollege.« Sie nickte zu Wünnenberg hinüber, der die ganze Zeit so
unauffällig wie möglich an seinem Computer gearbeitet hatte. »Der andere war
jünger und kleiner. Und beide hatten Jogginghosen an. Diese scheußlichen, mit
Druckknöpfen an der Seite. Außerdem trugen sie Lederjacken, obwohl es überhaupt
nicht kalt war.«
Sara mühte sich noch eine gute
Viertelstunde mit der Beschreibung ab, aber sie hatte die Gesichter der beiden
jungen Männer nur einen kurzen Moment lang gesehen. Hackenholt gab ihr seine
Visitenkarte für den Fall mit, dass ihr noch etwas einfiel. Auf der Rückseite
notierte er ihr zusätzlich seine Handynummer. Als sie zum Ausgang gingen,
schauten sie beim Erkennungsdienst vorbei, da Sara sich bereit erklärt hatte,
freiwillig ihre Fingerabdrücke abzugeben, damit ihre Spuren von denen, die im
Inneren der Laube gefunden worden waren, ausgeschlossen werden konnten.
»Ich habe Neuigkeiten«,
begrüßte Christine Mur Hackenholt, als er wieder in sein Zimmer zurückkam. Sie
saß auf seinem Schreibtischstuhl und zerlegte in aller Gemütsruhe sämtliche
seiner Kugelschreiber. Einen nach dem anderen. »Gibt es heute keinen Kaffee?«
»Die Kanne hatte heute Morgen
bedauerlicherweise einen kleinen, aber tödlichen Unfall. Außerdem, liebste
Christine, wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du nicht alle meine Stifte
ruinieren würdest. Gelegentlich muss ich mir nämlich auch noch etwas notieren.«
Mit diesen Worten nahm er ihr seinen Lieblingsstift aus der Hand, den sie
gerade in seine Einzelteile auflösen wollte.
Als hätte sie nur Hackenholts
ersten Satz gehört, griff Mur nach einem anderen Kugelschreiber. »Ach, deshalb
stinkt es hier so grausam. Na ja, auch Kaffeekochen will gelernt sein. Sei
froh, dass du Sophie zu Hause hast, die dich versorgt!«
Hilfesuchend sah der
Hauptkommissar zu Wünnenberg, doch der war nicht an seinem Platz, wie er erst
jetzt bemerkte. »Wolltest du mir nicht irgendwelche Neuigkeiten erzählen?«,
fragte er mit einem Seufzer.
»Ja, aber hock dich doch erst
mal hin, du trägst ja hier die ganze Ruhe raus.«
Da Mur nach wie vor keine
Anstalten machte, sich zu erheben, nahm Hackenholt, um Gleichmut bemüht, in seinem
eigenen Büro auf dem Besucherstuhl Platz.
Als die Leiterin der
Spurensicherung endlich zur Sache kam, fixierte sie noch immer die
auseinandergebauten Stifte, die sie nun in neuen, aberwitzigen Kombinationen
zusammenzubauen versuchte. »Erstens: In der Wohnung von dieser Orlowa waren
jede Menge Fingerabdrücke. Zweitens: Alle Fingerabdrücke – bis auf die von der
Orlowa und die eines Deutschrussen, den wir in der Kartei haben – stimmen mit
den Abdrücken in der Gartenlaube überein.
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