Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
sie
Verstärkung.
Der Hauptkommissar hastete die
Treppen hinunter. Das erste Stockwerk war geschafft. Er drückte die
Aufzugstaste. Zu spät. Er rannte weiter. So oft es ging, nahm er mehrere Stufen
auf einmal und übersprang die letzten vor einem Absatz. Das nächste Stockwerk
und dann noch eins und noch eins. Jedes Mal kam er nur Sekundenbruchteile zu
spät. Er schaffte es nicht! Keuchend blieb er stehen und atmete durch. In dem Augenblick
hörte er unter sich plötzlich ein lautes Poltern, gefolgt vom Gezeter einer
Frau. Er sprintete los. Ein Stockwerk, dann noch eins, er zählte die Stufen.
Zwei – vier – sechs – acht – zehn – zwölf – Absatz – um die Kurve – vierzehn –
sechzehn – achtzehn – zwanzig – zweiundzwanzig – vierundzwanzig – Absatz.
Hackenholt schoss erneut um eine
Ecke. Er hatte nur eins im Sinn: den Aufzugsknopf drücken. Eine offene Packung
Reis, deren Inhalt auf der nächsten Etage vor dem Lift verstreut lag, wurde ihm
zum Verhängnis. Auf den Körnern zog es ihm den rechten Fuß weg, er geriet ins
Straucheln, versuchte noch sich abzufangen, prallte dabei gegen etwas Weiches,
das sofort zu schreien begann, geriet vollends aus dem Gleichgewicht und schlug
schlussendlich auf den Boden. Der Schwung, den er noch hatte, ließ ihn mehrere
Meter über den Boden rutschen und hart gegen einen Türstock prallen. Die Welt
um ihn herum wurde schwarz.
Als er wieder zu sich kam,
kniete Saskia Baumann schreckensbleich neben ihm. In der Hand hielt sie ein
blutverschmiertes Taschentuch. Er versuchte sich zu bewegen, aufzusetzen, aber
es begann sich alles zu drehen. Er stöhnte.
»Um Himmels willn, bleib blous
lieng, der Sanga is gwieß glei då. Wer wass nern, wos du dir dou hosd.«
»Wo ist Aleksandr?« Hackenholt
verzog das Gesicht. Sein Kopf tat höllisch weh.
»Des is doch edz dodål woschd!«
Baumann war den Tränen nahe.
In der Ferne ertönte ein
Martinshorn, ein paar Sekunden später quietschten vor dem Haus Reifen, dann
wurden Türen zugeschlagen. Aus dem Erdgeschoss drangen laute Rufe zu ihnen
herauf. Baumann brüllte: »Dou heromer, fünfde Edaasch!«
Das Erste, woran sich
Hackenholt später wieder einwandfrei und ohne Gedächtnislücken erinnern konnte,
war, dass er in der Notaufnahme im Südklinikum auf einem Behandlungstisch lag,
während ein Arzt jeden einzelnen Knochen abtastete und ihn fragte, ob dieses
oder jenes wehtat. Ja, sein rechter Fuß schmerzte höllisch! Der Assistenzarzt
leuchtete ihm in die Augen und machte noch ein paar weitere Tests. Dann erklärte
er ihm, er werde als Nächstes die Kopfwunde nähen, danach müsse Hackenholt aber
noch zum Röntgen, Fuß und Schädel sollten genauer untersucht werden, wobei er
aber nicht glaube, dass da etwas gebrochen sei.
Sehr beruhigend, dachte
Hackenholt, dem es so schlecht wie noch nie zuvor in seinem Leben ging. Sein
Kopf schien kurz vor dem Zerplatzen zu sein. Dann senkte sich ein grünes OP -Tuch über sein Gesicht, und er spürte
einen kurzen Pieks. Anschließend hörte er nur noch das unsagbar laute Klappern
der Schere, wenn der Arzt sie nach jedem einzelnen Stich aus der metallenen
Nierenschale nahm, um den Faden abzuschneiden, und sie anschließend wieder dort
hineinfallen ließ.
Als endlich alle Untersuchungen
abgeschlossen waren, wurde Hackenholt auf die Station gebracht, wo er wegen der
erlittenen Gehirnerschütterung achtundvierzig Stunden zur Beobachtung bleiben
sollte. Da ihm noch immer unglaublich schlecht war und er jeden Gedanken ans
Aufstehen verwerfen musste, fügte er sich widerspruchslos seinem Schicksal.
Irgendwann tauchte Wünnenberg
mit Sophie auf. Er hatte sie abgeholt und war mit ihr ins Südklinikum gefahren,
da er es nicht übers Herz gebracht hatte, ihr am Telefon die Einzelheiten von
Hackenholts Unfall zu berichten. Es nahm sie auch so schon sehr mit. Erst
nachdem sie selbst mit dem behandelnden Arzt gesprochen hatte, beruhigte sie
sich allmählich. Hackenholt hatte eine Kopfplatzwunde und eine
Gehirnerschütterung davongetragen, außerdem waren Schulter und rechter Fuß
geprellt.
Während Sophie im Arztzimmer saß,
nutzte Hackenholt die Chance, mit Wünnenberg allein zu reden.
»Habt ihr herausgefunden, warum
dieser damische Reis auf dem Boden rumlag?«
»Zu dem Zeitpunkt, als du
Aleksandr Kusnezow verfolgt hast, hat im fünften Stock eine türkische Frau auf
den Aufzug gewartet. Ihre Mutter, die im elften Stock wohnt, hatte sie gebeten,
ihr eine Packung Reis hinaufzubringen. Als
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