Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Aufmerksamkeit der beiden jungen, unerfahrenen Polizisten auf sich gezogen zu haben.
Ludovic Mistral hatte die vorgeschriebene Dosis seiner Schlaftabletten verdoppelt, weil er der Meinung war, dass er viel Schlaf nachzuholen hatte. Als er am folgenden Morgen aus einem künstlichen, traumlosen, neunstündigen Schlummer erwachte, fühlte er sich noch müder als am Vorabend. Clara gegenüber hatte er dies allerdings nicht zugegeben, sondern war sogar zum Bäcker gegangen, um Croissants zu holen. Zwei Stunden später stieg er in sein Auto. »Ich fahre nur mal eben kurz in die Stadt«, sagte er zu seiner Frau. »Ich bin ganz schnell wieder da. Versprochen.«
Er ging zu Fuß durch die Rue Moncey, um sich selbst ein Bild von der Straße zu machen, wo der Rucksack gefunden worden war. Allerdings konnte er nichts Besonderes erkennen. Links und rechts parkten Autos; die wenigen Geschäfte waren im August geschlossen. Er stieg wieder in sein Auto, fuhr am Bahnhof Saint-Lazare entlang die Rue de Rome hinunter und bog nach rechts in die Rue La Fayette ab. Den Halt an einer roten Ampel nutzte er, um eine CD einzulegen, auf der Johnny Lee Hooker zusammen mit Miles Davis spielte. Die Ampel sprang auf Grün. Mistral gab Gas und fuhr an der Einmündung zur Rue de Budapest vorbei, nur fünfzig Meter entfernt von der Stelle, wo Olivier Émery in seinem Auto saß. Hooker und Davis spielten das Stück Murder . Mistral drehte den Ton lauter.
Die beiden jungen Streifenpolizisten, die bei Olivier Émery gewesen waren, hatten am Wochenende Bereitschaftsdienst. Es gab kaum etwas zu tun. Nur zweimal waren sie ausgerückt – einmal, um in einer Kneipe für Ruhe zu sorgen, in der sich angeheiterte Gäste ziemlich lautstark stritten, und ein zweites Mal, weil in einer Bank durch eine hitzebedingte elektrische Überspannung Alarm ausgelöst worden war.
»Was hattest du für einen Eindruck von dem Kollegen in der Rue de Budapest?«, erkundigte sich die junge Frau.
»Hm, eigentlich fand ich ihn nicht besonders auffällig.«
Er bearbeitete eine Playstation, aus der haarsträubende Töne drangen.
»Hat dich nichts gestört?«
Der junge Kollege brauchte ein paar Sekunden, ehe er antwortete. Sein kleiner Bildschirm nahm ihn völlig gefangen.
»Doch, sein Gesicht. Ich glaube, wenn der jemanden festnimmt, muss dem Übeltäter der Arsch auf Grundeis gehen. Außerdem sah er verdammt gut durchtrainiert aus.«
»Das habe ich eigentlich nicht gemeint. Irgendwie war mir in seiner Wohnung unbehaglich. Dir nicht?«
»Nein. Er hat gesagt, dass er nur unter der Woche dort wohnt. Es ist eben bloß eine Zweitwohnung, nicht unbedingt besonders schön. Er hatte ja nicht mal Bilder an den Wänden.«
»Trotzdem hat er mich geradezu fixiert, als ich mir das verpackte, flache Ding an der Tür angesehen habe. Was meinst du, was es sein könnte?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ein Bild?«
Die junge Polizistin ärgerte sich über die lakonischen Antworten ihres Kollegen, der sich sichtlich mehr für sein Spiel interessierte.
»Na, du scheinst dir ja nicht allzu viele Gedanken zu machen. Hast du etwa schon einmal ein Bild gesehen, das höchstens ein Zentimeter dick, aber einen Meter dreißig hoch ist und hinter einer Tür hängt?«
»Nein«, gab er seufzend zurück. »Kann sein, dass es ein Spiegel ist. Bei meinen Eltern hängt auch so einer, damit man vor dem Hinausgehen noch einmal seine Kleidung überprüfen kann. Aber vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Spielt das irgendeine Rolle? Wir haben den Kerl wegen einer Ruhestörung besucht. Was haben wir vorgefunden? Einen Polizisten, der Seilspringen trainiert. Okay? Und was hat der Kollege gesagt? Er hat versprochen, nur noch draußen zu springen. Der Nachbar, der sich beschwert hat, wurde informiert. Wo liegt dein Problem?«
»Ich weiß nicht recht. Kennst du irgendwen aus seiner Abteilung?«
»Nein, niemanden. Warum?«
»Nur so.«
»Vergiss den Kerl. Außerdem hat der Chef gesagt, dass die Untersuchung abgeschlossen ist.«
Die junge Polizistin begriff, dass sie nicht weiterkam, und beendete das Gespräch. Sie überlegte. Vielleicht hatte ihr nur ihre Intuition einen Streich gespielt – mit objektiven Fakten schien ihr Unbehagen nichts zu tun zu haben.
Nachdem kaum etwas zu tun war, setzte sich die junge Frau zum Zeitvertreib vor den Computer und begann zu surfen. Irgendwann ertappte sie sich dabei, wie sie das Wort »Spiegel« in eine Suchmaschine eingab, um wenig später das Wort »versteckt«
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