Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
einem Gefangenen«, berichtete der Priester und zerschnitt sein Blätterteigteilchen. »Er wollte, dass ich ihm von Seneca erzähle.«
»Das ist wirklich einmal etwas Besonderes«, grinste der Direktor. »In unseren Gefängnissen kommt so ein Gespräch eher selten vor.«
»Eigentlich handelte es sich weniger um ein Gespräch als um einen Monolog meinerseits, aber der Häftling hörte aufmerksam zu. Trotz seines eher ungeschliffenen Äußeren schien er wirklich interessiert.«
»Wer war es – falls Sie mir diese Frage beantworten dürfen?«
»Nein, ich bin hier nicht ans Beichtgeheimnis gebunden. Es handelte sich um Jean-Pierre Brial.«
Im gleichen Moment trank Jean-Pierre Brial aus einer Dose den Zuckersaft, in den sein Obstsalat eingelegt war. Er wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und lachte lauthals über die Verrücktheiten, die vermutlich im Esszimmer des Gefängnisdirektors über ihn ausgetauscht wurden. Sein dicker Wanst bebte.
»Warum lachst du?«, fragte ein Zellnachbar erstaunt.
»Weil ich jemanden auf Entfernung verarscht habe.«
Dalmate steckte den gelben Leuchtstift sorgfältig wieder in die Hülle. Insgesamt acht Anrufe, plus der ganze Rest. Er hatte mit einer Kopie gearbeitet; das Original bewahrte er in seinem Schreibtisch auf.
Calderone beendete gerade ein Gespräch mit einem Richter, als Dalmate mit unbewegtem Gesicht und den markierten Blättern in der Hand sein Büro betrat.
»Hast du etwas gefunden? Wenn man deine freudige Erregung so sieht, weiß man es eigentlich gleich«, meinte Caldrone.
»Und du machst dich über mich lustig! Ich bin nun einmal nicht besonders extrovertiert und werde es wohl auch nie werden, Vincent.«
»Dachte ich mir fast. Gut, was gibt es?«
»Ich bin bei den Anruflisten der Dimitrova fündig geworden. Sie hat Norman und Colomar insgesamt acht Mal auf der jeweiligen Handynummer angerufen – jede von beiden vier Mal – und lange mit ihnen gesprochen.«
»Wann?«
»Vor ungefähr zwei Monaten.«
»Hast du auch die Listen der beiden anderen Opfer daraufhin durchgesehen?«
»Ja, es kommt hin. Die Nummer der Dimitrova steht in den beiden anderen Listen; sie gehörte zu den Nummern, auf deren Identifikation wir noch gewartet haben.«
»Gut, dann haben wir jetzt also eine Verbindung zwischen den drei Frauen. Allerdings wissen wir noch immer nicht, aus welchem Grund.«
Calderone griff zum Telefon und drückte die Kurzwahl von Mistrals Handy.
»Da ist noch etwas, Vincent.«
Calderone legte wieder auf.
»Nämlich?«
»Dimitrova hat etwa zwanzig Mal unterschiedliche Nummern in einem kleinen Dorf im Département Seine-et-Marne angerufen. Ich habe sie überprüft. Man kann sagen, dass sie so ungefähr mit jedem dort telefoniert hat. Mit dem Rathaus, mehreren Geschäften, der Schule und Privatpersonen.«
»Okay, Paul, aber was soll dabei sein?«
»Einer der Anrufe ging an eine gewisse Odile Brial. Es ist der gleiche Name wie der des Mannes, der wegen der drei Morde in Pontoise einsitzt. Ich habe das Vernehmungsprotokoll überprüft. Die Mutter des Kerls heißt Viviane. Möglicherweise hat die Dimitrova einen Angehörigen gefunden.«
Mistral saß hoch über der Stadt Paris auf der Treppe von Sacré-Cœur auf dem Montmartre. Um ihn herum wimmelten Hunderte von Touristen, die sich in allen Sprachen der Welt an dem grandiosen Panorama erfreuten. Zwischen den Urlaubergruppen schlüpften Kinder von etwa zehn Jahren hindurch; es waren geschickte Taschendiebe, die die Leute ausplünderten, ohne dass sie es bemerkten. Mistral aß ein Sandwich. Er hatte Blickkontakt zu einigen der Jugendlichen gesucht, die ahnten, wer er war. Nervös begannen sie, in der Menschenmenge Ausschau nach anderen Polizisten zu halten, und verschwanden schließlich. Allerdings nur vorläufig.
Neben Mistral lagen ein Füllfederhalter und ein schwarzes Heft, in dem er auf einer Seite die Seneca-Zitate und auf einer anderen die Zitate aus dem Buch Prediger notiert hatte. Daneben hatte er einige Anmerkungen geschrieben.
Das Vibrieren seines Telefons riss Mistral aus seinen Gedanken. Er unterhielt sich kurz mit Calderone.
»Ich komme. Schicken Sie ein Team zu diesem Fotografen. Jacky Schneider soll ins Präsidium kommen. Da liegt offenbar einiges im Dunkeln. Was dieses Dorf in Seine-et-Marne angeht, müssen wir erst einmal in Ruhe nachdenken. Wir können nicht einfach so dorthin fahren, ohne zu wissen, was wir suchen.«
Als die Taschendiebe sahen, dass Mistral aufstand, folgten sie ihm in
Weitere Kostenlose Bücher