Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
wurde, desto fester umklammerte sie das Glas mit beiden Händen. Um 23.00 Uhr war die Wodkaflasche leer, und Odile Brial stieß unflätige Beschimpfungen gegen einen Fernsehmoderator aus. Gegen sechs Uhr morgens gelang es ihr, sich vom Sofa hochzuhieven und in ihr Bett zu fallen, wo sie innerhalb von weniger als zehn Sekunden einschlief.
31
M ONTAG , 25. A UGUST 2003
Um acht Uhr morgens beendete der diensthabende Kommissar der Wache des 9. Arrondissements die Einsatzberichte der Nacht. Keine besonderen Vorkommnisse. Er durchsuchte den Computer nach den Daten des Falles von Ruhestörung. Die junge Beamtin auf Probe hatte den Verdacht geäußert, dass der Kollege, den sie wegen der Beschwerde aufgesucht hatte, schizophren war. Um die Dienststelle herauszufinden, bei der Olivier Émery arbeitete, rief der Kommissar die Personalabteilung an. Dort erfuhr er zu seiner Verblüffung, dass es einen Polizisten namens Olivier Émery nicht im Personalbestand gab. Neugierig geworden forschte er in der Zentralkartei nach, wo alle Polizisten im Raum Paris aufgelistet waren. Die Antwort kam erstaunlich schnell. Per E-Mail schickte man ihm die komplette Liste auf den Bildschirm, doch auch hier war der Name unbekannt. Auf seine erneute Rückfrage hin beschied man ihm unfreundlich, er könne ja bei den einzelnen Dienststellen vorbeifahren und sich selbst überzeugen.
Der diensthabende Kommissar war ein pflichtbewusster Polizist. Er rief die beiden jungen Kollegen ins Büro, um sich zu vergewissern, dass kein Missverständnis vorlag.
»Wir irren uns ganz bestimmt nicht«, antwortete die Polizistin. »Er hat uns von seinen Schichten erzählt, die er in der Hauptverwaltung schieben muss, und auch ein wenig über seine Tätigkeit. Und wir sind auch ganz sicher, dass er in Paris arbeitet.« Der Kommissar wandte sich an den jungen Kollegen, der Olivier Émerys Erwiderung auf die Beschwerde seiner Nachbarn aufgenommen hatte.
»Hast du auch die Rückseite seiner Ausweiskarte kontrolliert?«
Der junge Mann wurde rot.
»Ja, also ... ehrlich gesagt, nein. Ich habe zwar seine Karte gesehen, die in einem Etui steckte. Aber daran habe ich nicht gedacht. Immerhin hielt ich ihn für einen Kollegen.«
»Das war ein Riesenirrtum, mein Junge. Hoffentlich können wir den noch glattbügeln. Wir fahren jetzt zusammen in die Rue de Budapest, und wenn er da nicht ist, suchen wir seine angebliche Dienststelle auf, wo ihr eine genaue Personenbeschreibung abgebt. Das riecht nach Ärger!«
Halb neun Uhr morgens. Mistral und Calderone lasen Dalmates Nachricht. Er hatte den Internetprovider der Dimitrova herausgefunden und nach langen Verhandlungen und einer ordnungsgemäßen Anfrage einen Zugang zu ihrem Internetkonto erhalten. Sie nutzte einen Cloud-Dienst, der ihr gestattete, ihre gesamte Arbeit außerhalb ihres Rechners oder anderer Speichermedien zu speichern, und ihr eine gewisse Sicherheit bot.
Paul Dalmate hatte keine Schwierigkeiten, das zu finden, was ihn interessierte. Es gab eine Datei namens »Brial«, die drei Videos enthielt. Eines der Videos war vom Fernsehsender France 3 aufgenommen und berichtete in anderthalb Minuten über die Festnahme Jean-Pierre Brials in Pontoise. Das zweite Video stammte aus der gleichen Quelle, war ebenso lang und zeigte Brial im Flur des Justizgebäudes von Clergy. Das dritte war nur wenige Sekunden lang und präsentierte zwei Frauen. Dalmate hatte alle drei Videos auf Mistrals und Calderones Rechner geschickt.
Außerdem hatte die Dimitrova eine kurze Notiz mit Namen »Die Affäre« verfasst, die Dalmate nur ausgedruckt hatte. Sie war mit einem gewissen Humor geschrieben. Calderone las sie mit lauter Stimme vor.
»Die Affäre. Wenn ich für diese Recherche nicht den Pulitzerpreis bekomme, lege ich mir einen Lieferwagen zu und verkaufe Sandwiches an irgendwelchen Mittelmeerstränden. Zumindest wäre mir dann warm, und ich hätte immer zu essen.
Durch einen Kollegen von France 3 wurde ich auf die drei Morde aufmerksam (Video 1). Jean-Pierre Brial, den man als mutmaßlichen Mörder festgenommen hat, machte einen merkwürdigen Eindruck auf mich. Er saß wie ein Fremdkörper neben der Plakette mit seinem Namen, wiederholte immer wieder, dass er unschuldig sei, und lehnte die Decke ab, mit der ihm die Polizisten den Kopf verhüllen wollten.
Später wurde ich Zeugin seiner Überführung ins Justizgebäude und spürte dabei das gleiche Befremden wie zuvor. ›Ich kann nichts dafür‹, wiederholte Brial, aber er
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