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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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MERY

30
    S AMSTAG , 23. A UGUST , UND S ONNTAG , 24. A UGUST 2003
    Paul Dalmate verbrachte das Wochenende im Büro mit der Akte Dimitrova. Nach dem Gespräch mit Mistral fühlte er sich erleichtert, obwohl er nicht wusste, wie sich sein weiteres Berufsleben gestalten würde. Den ganzen Samstag lang saß er vor seinem Computer und gönnte sich mittags lediglich ein Sandwich. Am Sonntag telefonierte er, verhandelte, drohte und verließ schließlich seinen Schreibtisch. Als er in sein Büro zurückkehrte, war er zufrieden. Er schrieb ein Memo und legte jeweils eine Kopie auf die Schreibtische von Mistral und Calderone. Gegen 16.00 Uhr verließ er das Präsidium und ging zu Fuß die zweihundert Meter zur Kathedrale Notre-Dame. Hunderte Touristen aller Nationalitäten bevölkerten die Kirche. Das mittlere Kirchenschiff war für Betende reserviert. Dort ließ Paul Dalmate sich nieder. Er blieb länger als eine Stunde.
    Clara und Ludovic flanierten über den Markt von Honfleur, fuhren zum Baden an den Strand von Deauville und taten alles, um sich ein wenig zu erholen. Ludovic hatte seine Schlaftabletten mitgenommen. Am Samstag nahm er gegen Mitternacht zwei Pillen, die ihn rasch in Tiefschlaf versetzten. Auch wenn er am nächsten Morgen recht lang brauchte, um richtig wach zu werden, war es doch die erste Nacht seit mehr als zwei Monaten, in der er acht Stunden durchschlief und keine Albträume hatte. Das weckte in ihm einen gewissen Optimismus.
    Am Samstag konnte Olivier Émery der Versuchung nicht widerstehen, in die Rue de Budapest zu fahren, um zu sehen, ob sich dort irgendwelche Polizeifahrzeuge befanden. Er entdeckte nichts, was ihn fast ein wenig enttäuschte. Den Rest der Zeit vertrieb er sich damit, Bier zu trinken und zwischendurch seine Tabletten zu nehmen. Im Rausch rief er gegen Abend kurz bei seiner Mutter an. Sie wusch ihm den Kopf, und er konnte ihr nicht sagen, warum er eigentlich angerufen hatte.
    Sonntags kaufte er sich gegen Mittag in einem Supermarkt eine Packung mit vierundzwanzig Dosen Bier, die er zwölf Stunden später leergetrunken hatte. Die einzige feste Nahrung, die er zu sich nahm, bestand in einem Käsebrot. Am Abend wagte er sich vor die Tür, um bei FIP anzurufen. Es war ein unbezähmbarer Drang, gegen den er sich machtlos fühlte. Er musste telefonieren, auch wenn ihm klar war, das man ihn abwimmeln würde. Er erinnerte sich weder der Anzahl der Anrufe noch der Telefonzellen oder Kneipen, von denen aus er angerufen hatte. Auf dem Rückweg in seine Wohnung musste er sich an geparkten Autos und Hauswänden abstützen, um nicht hinzufallen.
    Der Techniker bei FIP lachte schallend, als er die Aufzeichnungen noch einmal abhörte. Mann, war der Kerl besoffen gewesen!
    Olivier Émery wartete bis Montag, ehe er sich wieder aufmachte.
    Am Samstagmorgen ging Odile Brial durch das Dorf, um im Gemischtwarenladen ein paar Einkäufe zu machen. Einzig der Inhaber des Geschäftes wechselte ein paar Worte mit ihr. Immerhin gab die Fremde Geld in seinem Laden aus. Die anderen Kundinnen wandten sich ab, sobald sie vorüberkam. Odile Brial, der die Feindseligkeit der Bauerntrampel nichts ausmachte, setzte sich auf eine Bank, rauchte ein paar Zigaretten und las ihre Zeitung. Neben einigen Vorräten hatte sie eine Flasche Wodka in ihrem Einkaufswagen. Nachdem sie am Samstagabend das kurze Gespräch mit ihrem Sohn abrupt beendet hatte, erfüllte sie Reue. Am liebsten hätte sie ihn zurückgerufen, doch sie kannte seine Nummer nicht. Immer wieder dachte sie über das Gespräch nach und leerte dabei zum Trost eine halbe Flasche Branntwein, was ihr Magenschmerzen verursachte.
    Am Sonntag war Odile Brial noch üblerer Laune. Der Anruf ihres Sohnes am Vortag beschäftigte sie noch immer. Er diente ihr als Entschuldigung, um ihren Morgenkaffee mit einer großzügigen Ration Calvados aufzupeppen. Um ihr Gewissen zu beruhigen, aß sie ein Stück Brot mit einer Scheibe Schinken. Gegen 16.00 Uhr jedoch nahm sie dann die Flasche Wodka in Angriff. Sie machte es sich auf ihrem durchgesessenen Sofa gegenüber dem Fernseher bequem und legte die Beine auf einen Stuhl. Zu ihrer Linken stand eine Schüssel mit Eisstückchen, zu ihrer Rechten die offene Wodkaflasche – es lohnte nicht, sie zu verschließen – sowie ein großes Glas. Als sie zu trinken begann, wechselte sie noch die Fernsehprogramme mit einer Fernbedienung, die nur von Gummibändern und Klebeband zusammengehalten wurde. Je niedriger der Wodkapegel in der Flasche

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