Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Odile Brial auch fünfunddreißig Jahre nach ihrer Ankunft in diesem Dorf noch entgegenschlug. Er hielt es für besser, nicht zu antworten.
»Wissen Sie, ob Madame Brial zu Hause ist?«
»Vermutlich. Wahrscheinlich schläft sie ihren Rausch aus, wie üblich. Sie trinkt eine Menge. Mehr als ein Mann, und das schon seit langer Zeit.«
Der Nachbar hatte Mistral und Sainte-Rose nach hinten in den Garten geführt, wo sie miteinander reden konnten, ohne dass Odile Brial bemerkte, dass er mit der Polizei sprach. Es schien ihn zu enttäuschen, dass die beiden Beamten sich offenbar nicht für die Alkoholprobleme von Madame Brial interessierten.
»Bekommt sie manchmal Besuch?«, erkundigte sich Ingrid Sainte-Rose.
»Ich stehe nicht ständig am Fenster, sondern halte mich lieber hier im Garten auf. Sehen Sie das Mäuerchen da? Es macht mir Spaß, den Eidechsen zuzuschauen, die in der Sonne sitzen und Fliegen fressen. Das ist faszinierend! Hier gibt es zwei Eidechsen, die sich ein Revier teilen. Sie ähneln sich sehr, und manchmal verwechsele ich sie auch. Sie jagen und töten auf die gleiche Weise.«
Ein junger Hund kam aus dem Haus gerannt. Er sprang herum, stürmte durch den Hof, wedelte seinen Herrn an und schnüffelte neugierig an Mistrals und Sainte-Roses Beinen. Eine Zeitlang sahen sie dem drolligen kleinen Kerl stumm zu, wie er bellend den Schatten von Schwalben nachjagte, die ihr Nest unter dem Dach des Hauses gebaut hatten.
»Raki, hör auf damit! Das sind doch nur Schatten. Die Vögel fliegen da oben. Auf diese Weise fängst du bestimmt keinen.«
Der Hund bellte noch einmal und verschwand wieder im Haus.
»Um wieder auf Odile Brial zurückzukommen: Hat sie einen Sohn? Besucht er sie manchmal?«
»O ja, sie hat einen Sohn, einen wahren Taugenichts. Allerdings ist er schon seit Jahren verschwunden, was niemand hier bedauert.«
»Gab es vielleicht noch andere Kinder?«
»Oh, einer wie der genügte vollauf. Und dann seine sogenannten Freunde! Unmöglich!«
»Wissen Sie, wie ihr Sohn heißt?«
»Nein, das müssen Sie sie schon selbst fragen.«
»Haben in der letzten Zeit vielleicht irgendwelche Autos vor ihrer Tür geparkt?«
Der Alte dachte nach.
»Ich glaube ja. Da war ein Ford, ein altes Modell in einer dunklen Farbe. Sonntag vor acht Tagen. Ein Mann ist ausgestiegen. Er stand mit dem Rücken zu mir und sprach mit Madame Brial.«
»Wissen Sie, wer es war?«
»Die Frage müssen Sie ihr stellen. Ich muss jetzt wieder rein. Es wird Zeit, dass ich meine Medikamente nehme.«
Ohne weitere Formalitäten drehte der Nachbar sich um und ging ins Haus. Verblüfft über seine kurz angebundene Art starrten die beiden Polizisten ihm nach. Dann begaben sie sich wieder zu Odile Briands Haus.
»Ich glaube, der alte Herr war verärgert, weil wir ihm nicht den Grund unseres Kommens genannt haben«, stellte Mistral fest.
Ingrid klingelte an der Tür. Dieses Mal hörten sie innen eine heisere Stimme.
»Wer ist da?«
»Die Polizei, Madame«, antwortete Ingrid.
»Ach ja? Und was will die Polizei von mir?«
»Öffnen Sie, dann werden Sie es erfahren.«
Zwei oder drei Minuten lang herrschte tiefstes Schweigen.
Ungeduldig schlug Mistral mit der flachen Hand auf die Tür. Grummelnd drehte Odile Brial den Schlüssel im Schloss und öffnete. Sie war schmutzig, unfrisiert und roch nach Schnaps. Ihr schwarzes, kurzärmliges Kleid war mit Flecken übersät, und das graue Haar wirkte stumpf und fettig.
»Kommen Sie herein. Ich mache uns einen Kaffee. Lassen Sie die Tür offen, das lüftet das Haus. Vor Einbrechern habe ich keine Angst – schließlich ist ja die Polizei da.«
Odile Brials lautes Lachen endete in einem Hustenanfall. In zerlumpten Pantoffeln schlurfte sie den Beamten voraus.
Das Haus war ein Spiegelbild seiner Besitzerin – vernachlässigt und übelriechend. Odile Brial bewegte sich unsicher. Die Nachwirkungen von einem Liter Wodka waren ihr deutlich anzumerken. Mistral machte Ingrid Sainte-Rose auf die leere Flasche aufmerksam, die neben dem Sofa lag. In der Küche herrschte eine unglaubliche Unordnung. Mit Essensresten verkrustete Teller stapelten sich überall. Neben der Spüle standen leere Schnapsflaschen aller Art aufgereiht, dazwischen lag eine Ecke vergessener und verschimmelter Camembert. Mit sichtlichem Genuss zündete Odile Brial sich eine Zigarette an und lud die beiden Polizisten zu einer Tasse Kaffee ein, was diese angesichts der zweifelhaften Sauberkeit des Geschirrs dankend ablehnten. Auf
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