Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
dem Küchentisch, wo ein vor vielleicht zwei oder drei Jahrzehnten einmal weiß gewesenes Häkeldeckchen lag, stapelten sich geöffnete Medikamentenschachteln. Um eine Schale mit halb verfaultem Obst schwirrte eine Wolke von Fruchtfliegen.
Odile Brial stützte die Ellbogen auf und hielt ihren Kaffeebecher mit beiden Händen. Sie blickte Mistral an und begann erneut zu lachen.
»Sie sollten vielleicht lieber einen Calvados trinken. Oder besser noch einen Cognac. Ich habe wirklich guten im Haus. So, wie Sie aussehen, können Ihnen ein paar Promille nur gut tun.«
»Danke, es geht schon.«
»Entschuldigen Sie, aber ich trinke einen. Danach geht es einem nämlich besser. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal in einem solchen Zustand war. Also – was will die Polizei von mir? Ich habe nichts zu befürchten. Schließlich zahle ich sowohl meine Steuern als auch die Fernsehgebühren. Was sein muss, muss sein. Ein Auto habe ich nicht; ein Knöllchen kann es also nicht sein. Okay, ich bin ja schon ruhig! Worum geht es?«
Ehe Mistral sich jedoch an einer Erklärung versuchte, die selbst ein alkoholvernebeltes Hirn erfassen konnte, klangen Schritte durch das Haus. Mistral blickte auf. In der Tür stand Dalmate. Auch Odile Brial sah den Beamten an.
»Sieh mal einer an!«, rief sie. »Der Seminarist! Wo kommt der denn plötzlich her?«
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A M GLEICHEN T AG
Das Wort Bestürzung war fast zu schwach, um das zu beschreiben, was Mistral, Dalmate und Sainte-Rose in diesem Augenblick empfanden. Stumm blickten alle drei Odile Brial an.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte sie erstaunt.
Weder Dalmate, der immer noch auf der Schwelle zur Küche stand, noch Sainte-Rose, die ihren Notizblock nicht auf den fettigen Küchentisch zu legen wagte, sprachen ein Wort. Mistral setzte ein freundliches Lächeln auf, das Odile Brial in Sicherheit wiegen sollte.
»Warum haben Sie ihn Seminarist genannt?«
Odile Brial bemerkte, dass der Ton des Kommissars sich verändert hatte. Seine Stimme klang jetzt hart und passte genau zu seinem Gesichtsausdruck. Denn es waren nur seine Lippen gewesen, die gelächelt hatten, nicht seine dunklen, tief liegenden Augen.
»Keine Ahnung warum.«
»Woher wissen Sie, dass er im Priesterseminar war?«
»Ich weiß es eben. Ganz einfach. Und hören Sie auf mit ihrem Tralala und Ihren finsteren Blicken. Was interessiert mich schon, ob er Seminarist oder Astronaut ist? Und jetzt sagen Sie mir endlich, weswegen Sie hier sind!«
Mistral ignorierte Odile Brials Einwurf.
»Haben Sie ihn schon einmal gesehen, den Seminaristen?«
»Mein Gott, was für eine intelligente Frage! Wenn ich ihn doch wiedererkannt habe!«
»Wann war das?«
Odile Brial, die sich immer unbehaglicher fühlte, wand sich auf ihrem Stuhl und fuhr sich mit allen Fingern durch ihr graues Haar, als wolle sie sich kämmen.
»Woher soll ich das wissen? Vor acht Tagen vielleicht. Wieso seid ihr Bullen hier?«
»Wer hat Ihnen gesagt, dass man ihn den Seminaristen nennt?«
Odile Brial spürte, dass sie in der Falle saß. Sie reagierte aggressiv.
»Das weiß ich nicht mehr. Genügt Ihnen das als Antwort?«
»Ja, absolut.«
Mistral wandte sich an Ingrid Sainte-Rose.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Zehn vor elf.«
»Um wie viel Uhr haben wir das Haus betreten?«
»Um zwanzig vor elf.«
Mistral blickte Odile Brial an, die dem raschen Wortwechsel zwischen den beiden Beamten zwar zu folgen versuchte, aber nichts davon begriff.
»Madame Brial, wir nehmen Sie hiermit ab 10.40 Uhr für vierundzwanzig Stunden in Polizeigewahrsam. Die Zeit kann durch einen Ermittlungsrichter um weitere vierundzwanzig Stunden verlängert werden.«
Ingrid Sainte-Rose klärte die wie betäubt dasitzende Odile Brial über ihre Rechte auf.
»Ich und verhaftet? Wie eine Kriminelle? Was es nicht alles gibt!«
»Laut Gesetz haben Sie die Möglichkeit, einen Angehörigen darüber zu informieren, dass Sie in Gewahrsam genommen werden. Wen sollen wir anrufen?«, fragte Mistral.
»Ich hätte gern ...«
Odile Brial brach ab und blickte auf Mistral.
»Niemanden. Und was machen Sie jetzt?«
»Eine Hausdurchsuchung«, gab Paul Dalmate lapidar zurück.
»Aha, der Seminarist macht also auch mit. Ich gebe dir einen guten Rat, mein Junge: Zwar weiß ich nicht, wer du bist, und auch nicht, wo du herkommst – aber sieh zu, dass du so schnell wie möglich aus diesem verrückten Haus verschwindest.«
»Er ist kein Seminarist«, sagte Mistral sehr ruhig. »Er ist
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