Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
wenig.«
Jean-Pierre Brial stieg in den Keller hinunter, wo er einen Holzstapel beiseiteräumte. Dahinter öffnete er eine Klappe, die in einen noch tiefer liegenden Raum führte, wo früher die Kohle aufbewahrt wurde, und förderte eine Kiste zutage. Darin lagen seine Hefte. Alle sahen gleich aus, und alle waren in klare Schutzfolie eingebunden. Auf Etiketten standen die jeweiligen Daten. Brial nahm acht Hefte heraus, die die Jahre 1985 und 1995 beinhalteten. Er ließ sich in einem Sessel nieder und begann mit großer Aufmerksamkeit zu lesen. Irgendwann stand er auf und suchte das zusammen, was es im Haus an Genießbarem gab: eine Flasche Armagnac und ein Päckchen Kekse.
Die Polizisten, die zu seiner Überwachung abgestellt waren, gaben ihrer Leitstelle durch, dass Brial keine Anstalten machte, sein Haus zu verlassen. Anschließend riefen sie Richter Tarnos an.
»Wir wissen jetzt, wo er ist«, meinte Tarnos. »Je nachdem, wie sich die Ermittlungen der Kripo gestalten, werde ich Ihnen mitteilen, wie wir in den nächsten vierundzwanzig Stunden vorgehen. Aber bleiben Sie wachsam.«
35
A M GLEICHEN T AG
15.30 Uhr. Ein Wagen der Kriminalpolizei verließ das Präsidium und brachte das erschöpfte Ehepaar Lestrade zurück nach Hause. Nach Angaben des alten Mannes hatte ein Zeichner ein Phantombild erstellt, das Lestrade selbst als »wirklich sehr ähnlich« charakterisiert hatte. Der Zeichner war darin geschult, Zeugen die richtigen Fragen zu stellen, um ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Die alten Leute hatten eine Einladung zu einem Mittagessen im Restaurant ausgeschlagen und lieber mit den freundlichen Polizisten Kaffee und Butterbrote geteilt. »Unsere Bekannten und Verwandten werden vor Neid platzen, wenn sie erfahren, was wir alles erlebt haben«, sagte Madame Lestrade zufrieden.
Kurz vor der Abfahrt hatte ihr Mann Mistral am Ärmel gezupft und ihn ein wenig abseits geführt.
»Ich bin achtzig Jahre alt, und ich weiß, dass man mir das nicht ansieht«, vertraute er dem Kommissar an. »Wollen Sie wissen, warum?«
Mistral nickte amüsiert.
»Ich bin immer zu regelmäßigen Zeiten zu Bett gegangen; nur am Samstagabend wurde es manchmal ein bisschen später. Als Älterer möchte ich Ihnen einen Rat geben. Sie üben einen aufreibenden Beruf aus, sind wahrscheinlich verheiratet und haben vielleicht Kinder – erlauben Sie, dass ich Ihnen etwas empfehle?«
Mistral hörte dem alten Mann lächelnd zu.
»Aber gern!«
»Sie sollten nicht in Nachtklubs gehen. Auf die Dauer schadet es Ihrer Gesundheit.«
»Vielen Dank für den Ratschlag. Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, ihn aufs Wort zu befolgen.«
Als die alten Leute gegangen waren, betrachteten Ludovic Mistral und Calderone ratlos das Phantombild.
»Dieses Gesicht sagt mir gar nichts. Ich bin so gut wie sicher, diesen Burschen an keinem der drei Tatorte gesehen zu haben. Und doch soll das der Mann sein, von dem wir die Stimmaufzeichnungen besitzen?«
Calderone fasste zusammen, was Mistral dachte. Die beiden Kommissare waren enttäuscht und fragten sich, auf welche Weise der Mann, der sich Olivier Émery nannte, an den Verbrechen beteiligt sein konnte.
Olivier Émery wusste, dass Jean-Pierre Brial frei war und wo er sich aufhielt. Ebenso wusste Jean-Pierre Brial, wo Olivier Émery war. Trotzdem würden sich beide in den kommenden Tagen nicht vom Fleck bewegen, es sei denn, dass eine Gefahr drohte. Brial ahnte, dass er überwacht wurde, und musste sich gedulden.
Émery, der sich in seinem Hochhaus sicher fühlte, überlegte. Auf dem Tisch standen Medikamente und Konservendosen. Im Hintergrund verkündete der Nachrichtensender France Info, dass die Hitzewelle allmählich abebbte und jahreszeitüblichen Temperaturen wich. Dennoch blieb die erschreckend hohe Zahl der Todesfälle ein täglich wiederkehrendes Thema. Émery verfolgte jede Nachrichtensendung. Auf diese Weise hatte er von der Freilassung Brials und den großspurigen Erklärungen seines Anwalts erfahren. Dass die Ermittlungen der Kriminalpolizei in die heiße Phase gingen und die Schwestern Brial in einen achtundvierzigstündigen Gewahrsam genommen worden waren, erfuhr er dagegen durch die Indiskretion einer den Ermittlern nahestehenden Quelle. Pech gehabt , dachte er spontan. Brial dachte genau das Gleiche und machte sich über den Armagnac her.
Eine Viertelstunde später wand sich Émery vor Schmerzen auf seinem Bett.
16.30 Uhr. Im Sekretariat von Bernard Balmes liefen die Telefone
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