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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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meine Träume.
    Ich habe mir ein neues Spiel ausgedacht. Sobald ich vor die Tür darf, versuche ich, Dinge zu tun, die Angst machen. Am liebsten renne ich im letzten Augenblick vor einem Auto auf die Straße. Ich wäre schon ein paarmal beinahe überfahren worden und habe auch schon gespürt, wie der Kotflügel eines Autos mich berührte. Die Fahrer steigen voll auf die Bremse, und dann höre ich, wie sie mich anschreien und beleidigen. Eines Tages wäre ich beinahe vor Lachen erstickt. Ein Typ hat wie verrückt gebremst, und das Auto hinter ihm ist in ihn hineingerauscht. Es hat einen Riesenknall gegeben. Der Fahrer hat versucht, mich zu erwischen, aber ich hatte einigen Vorsprung und renne schnell. Eine Viertelstunde später bin ich zurückgegangen. Natürlich habe ich mich versteckt. Die beiden Fahrer waren noch immer dabei, sich gegenseitig zu beschimpfen. Das war wirklich lustig. Aber sonst, wenn ich dieses Spiel spiele, habe ich immer eine Art Todesangst. Das Gefühl verursacht mir ein Kribbeln auf der Haut. Nachts träume ich, dass ich über Autodächer laufe und die Fahrer mich nicht fangen können.
    Ich werde mir noch andere Spiele ausdenken, bei denen man Schiss bekommt.
    In der Stadt gibt es viele Möglichkeiten. Wenn ich in meinen Heften lese, kriege ich eine Gänsehaut.
    Jedes Mal, wenn meine Mutter den Briefkasten öffnet, achtet sie darauf, dass ich nicht in der Nähe bin. Trotzdem habe ich gesehen, wie sie wieder einen großen Brief bekommen hat. Er steckte in einem braunen, mit einer Schnur verschlossenen Umschlag. Als meine Mutter merkte, dass ich da war, hat sie mich aus dem Zimmer gejagt. Eines Tages, als ich allein zu Hause war, wollte ich mir den Brief ansehen, aber der Schrank war abgeschlossen.
    Manchmal kommt ein Mann und bleibt über Nacht bei Mutter. Es ist nicht oft derselbe. Und wenn es manchmal derselbe ist, dann kommt er höchstens drei oder vier Nächte. Nicht mehr. Und danach ist es dann wieder ein anderer. Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich klein war, mit den Männern flüsterte. Mein Zimmer hat keine Tür und Mutters Zimmer auch nicht. Ich tat, als ob ich schliefe, und beobachtete, wie sie auf Zehenspitzen an meinem Zimmer vorbei in das meiner Mutter gingen. Um sicherzugehen, dass ich sie nicht sah, deckte Mutter mein Gesicht mit dem Betttuch zu. Ich bewegte mich nicht und atmete kaum, aber ich lauschte. In vielen Nächten hatte ich ein Betttuch über dem Gesicht. Ich hasste es. Wenn ich hörte, dass Mutter in mein Zimmer kam, wusste ich, dass sie mein Gesicht bedecken würde. Manchmal wünschte ich mir, dass sie mich in die Arme nähme, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie es je getan hat. Oft konnte ich nicht einschlafen. Ich hörte die Geräusche, die sie machten, und hatte schreckliche Angst. Und wenn ich dann irgendwann viel später doch einschlief, hatte ich Albträume.

4
    M ITTWOCH , 6. A UGUST 2003
    Ludovic verbrachte einen Teil der Nacht damit, die grüne Digitalanzeige des Radioweckers zu beobachten; in der restlichen Zeit plagten ihn böse Träume. Resigniert stand er gegen fünf Uhr morgens auf, ging in sein Arbeitszimmer und nahm ein zerlesenes Buch aus dem Regal, das er über alles liebte. Gedichte von Blaise Cendrars. Immer und immer wieder hatte er sie gelesen. Auch in seinem Büro lag ein Exemplar. Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und ließ sich von der Magie der Verse Cendrars’ gefangen nehmen. An diesem Morgen war es das Gedicht Rio de Janeiro . Mistral las bis halb sieben, dann bereitete er das Frühstück vor und wartete, dass Clara aufstand.
    »Ich würde das Wochenende gern am Meer verbringen.«
    »Wir könnten einen Ausflug nach Honfleur machen«, schlug Ludovic spontan vor.
    »Tolle Idee! Kümmerst du dich um ein Hotel?«
    Zur gleichen Zeit beendete der Mann seine Morgengymnastik. Er betrat das Bad, um sich zu rasieren. Allein bei der Vorstellung wurde ihm schlecht.
    Der Kaffee und die Klimaanlage des Autos weckten in Ludovic Mistral das Gefühl, wach zu sein und sogar ein wenig Energie zu haben. Im Radio lief eine Reportage über die gesundheitlichen Folgen der andauernden Hitzewelle. Der Moderator erinnerte an die Schwierigkeiten alleinstehender älterer Menschen, mit der Hitze fertig zu werden, und schloss seinen Bericht mit dem Hinweis, dass die Wetterämter noch höhere Temperaturen voraussagten, was die Situation keinesfalls verbessern würde. Mistral zappte durch die Nachrichtensender. Alle beschäftigten sich mit den

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