Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
erreichbar sei.
Zwanzig Minuten später parkte er seinen Wagen in einer stillen Seitenstraße des 15. Arrondissements. Es war das erste Mal, dass er seinen Gesprächspartner zu Hause besuchte, auch wenn sie seit einiger Zeit regelmäßig miteinander telefonierten. Gleich beim ersten Läuten antwortete eine Stimme in der Gegensprechanlage: »Vierter Stock rechts.« Mit lautem Summen öffnete sich die Glastür.
Als Mistral aus dem Aufzug stieg, erwartete Jacques Thévenot ihn bereits auf dem Treppenabsatz. Thévenot war Psychiater. Die beiden Männer schüttelten sich lang die Hände. Thévenot bewohnte eine große, geschmackvoll ausgestattete Wohnung mit modernen Gemälden an den Wänden und einer luxuriösen Bibliothek.
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
»Und ich erst«, strahlte der Psychiater. »Womit bewiesen wäre, dass wir beide wieder unter den Lebenden weilen. Obwohl es für uns beide ziemlich knapp war. Kaffee?«
»Gern. Bitte ohne Zucker. Ich hoffe, ich wirbele Ihren Stundenplan nicht durcheinander.«
»Absolut nicht. Meine Frau ist bei der Arbeit, und ich hatte heute Morgen nichts Besonderes vor.«
»Wie lange haben Sie eigentlich im Koma gelegen?« Sofort bereute Mistral die sehr direkte Frage, die der Arzt ihm jedoch nicht übel zu nehmen schien.
»Ungefähr einen Monat.«
»Irgendwelche Spätfolgen?«
»Ich glaube nicht. Trotzdem habe ich noch nicht wieder zu meinem zeitlichen Rhythmus davor zurückgefunden. Im Augenblick arbeite ich sowohl in meiner Praxis als auch im Krankenhaus nur halbtags. Später werden wir dann weitersehen. Und wie geht es Ihnen?«
»Nun ja, eher mittelmäßig. Ich dachte eigentlich, ich hätte mich gut erholt, aber irgendwie schleppe ich mich herum und habe an nichts wirklich Freude. Ich schlafe sehr schlecht und fühle mich ständig erschöpft. Sicher hat auch die Hitze etwas damit zu tun.«
»Ja, ja, schieben Sie es ruhig auf das Wetter. Es hat ein breites Kreuz. Warum sind Sie hier? Sehnsucht nach den alten Zeiten?«
»Ich wollte einfach wissen, wie es Ihnen geht. Aber ich bin tatsächlich nicht in bester Form. Vielleicht hatte ich wirklich Sehnsucht.« Mistral lächelte den Psychiater an.
»Haben Sie Ihre Genesungszeit wenigstens ordentlich genossen? Zu Beginn ist man ja noch ziemlich k.o., aber später tut es doch richtig gut, keinen Finger krumm zu machen und sich bedienen zu lassen.«
»Ja, das kenne ich. Meine Frau und die Kinder waren froh, mich jeden Tag um sich zu haben. Ich habe mit den Jungs Hausaufgaben gemacht und oft mit ihnen gespielt. Außerdem hatte ich viel Besuch. Es wurde zum Schluss ganz schön nervig, immer wieder das Gleiche zu erzählen. Und bei Ihnen?«
»Als ich mich wieder richtig wohlfühlte, bin ich gern nachmittags ins Kino gegangen. Es macht Spaß, sich Filme anzuschauen, während die anderen Leute arbeiten. Sie sollten es einmal ausprobieren. Man genießt den Film noch viel mehr!«
»Daran habe ich noch nie gedacht. Warum eigentlich nicht? Ich sollte es wirklich einmal ausprobieren.«
Die beiden Männer unterhielten sich lange. Mistral verließ Thévenot erst zwei Stunden später. Auf der Rückfahrt dachte er über die letzten Sätze des Psychiaters nach, der seinen Gast zum Aufzug begleitete. »Sie werden noch einige Zeit brauchen, ehe Sie alles verarbeitet haben. Aber irgendwann ist es so weit, das dürfen Sie mir glauben! Und wenn sich nicht alles von selbst regelt, kommen Sie zu mir. Ich brauche ebenfalls Gespräche mit jemandem, der weiß, wie sich alles abgespielt hat. Und wenn sich niemand findet, dann werde ich wohl zu einem Kollegen gehen.«
Das letzte Geständnis verblüffte Mistral, doch er hütete sich, Fragen zu stellen. Ehe er sich verabschiedete, weigerte er sich zunächst, ein Rezept anzunehmen, auf dem Thévenot ihm »kleine Schlaftabletten, die Ihnen aber gut tun werden« verschrieben hatte. Später nahm er es dann doch an, nachdem der Psychiater beiläufig gesagt hatte: »Ich nehme auch welche. Behalten Sie das Rezept einfach. Wenn Not am Mann ist, werden Sie sich freuen, es zur Hand zu haben. Aber Vorsicht! Medikamente sind nur ein Hilfsmittel. Wenn man sich ein Bein bricht, ist es nicht die Krücke, die den Knochen heilt!«
Nach dem Gespräch mit Thévenot traf sich Ludovic mit Clara in einem kleinen Restaurant. Sie erzählte begeistert und wortreich von einer Konferenz, die sie gerade vorbereitete. Mistral freute sich am Enthusiasmus seiner Frau. Seinen Besuch bei Thévenot erwähnte er mit keinem
Weitere Kostenlose Bücher