Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Spiegelzwillingen hatte ihn mit einer ordentlichen Dosis versorgt, doch jetzt spürte er, wie die Wirkung abflaute.
Er blätterte in seinen Notizen.
»Wir wissen noch immer nicht, warum sechs Frauen sterben mussten, auch wenn wir den Tätern inzwischen ein gutes Stück nähergekommen sind. Hat vielleicht jemand eine Idee?«
Mistrals Frage dämpfte den Optimismus, der sich bei den Beamten breitgemacht hatte. Keiner wusste eine Antwort.
Mitternacht. Das Klingeln des Telefons riss die Polizisten aus ihren Gedanken. Nachdem Mistral kurze Zeit gesprochen hatte, schaltete er auf Lautsprecher um, damit alle mithören konnten. Am anderen Ende war der Einsatzleiter der Gruppe, die Émery im 18. Arrondissement suchte.
»Wie schon gesagt, es gibt dank des Phantombildes eventuell eine heiße Spur. In den Lokalen, von denen aus er bei FIP angerufen hat, wurde er durchgängig wiedererkannt. Inzwischen stehe ich vor dem Wohnhochhaus, das man vom Boulevard Périphérique an der Porte de la Chapelle aus sehen kann. Ein paar Jugendliche haben ihn definitiv gesehen, und zwar an zwei aufeinanderfolgenden Abenden. Auch heute Abend. Sie sagen, dass er das Haus verlassen hat, aber noch nicht zurückgekommen sei.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich bin so schnell wie möglich bei Ihnen.«
Ein neuerlicher Adrenalinstoß durchflutet Mistrals Körper.
»Das Team umfasst zehn Mann. Ich fahre nur mit Vincent, das dürfte genügen. Die anderen setzen die Verhöre fort. Bleibt aber in Bereitschaft, falls wir euch brauchen.«
»Ich möchte bitte mitkommen.«
Dalmates Stimme klang fester und lauter als gewöhnlich, was alle Anwesenden überraschte. Mistral blickte den Kollegen an.
»Es handelt sich um einen Fall, der meinem Team übertragen war. Daher möchte ich bei einer eventuellen Verhaftung anwesend sein, um später die Verfahrensprotokolle zu erstellen.
Mistral nickte zustimmend.
Als der Wagen mit Calderone am Steuer den Hof des Präsidiums verließ, fuhr er langsam und hatte weder Sirene noch Blaulicht eingeschaltet. Auch das Schild mit der Aufschrift »Polizei« leuchtete nicht. Der Wagen unterschied sich kaum von den vielen anderen Fahrzeugen, die nach einem langen Arbeitstag unterwegs waren. Calderone ließ sich mehrfach überholen und hielt hundert Meter weiter an einer roten Ampel.
»Warum fahren wir so langsam?«, erkundigte sich Dalmate.
»Wenn wir losrasen wie eine Rakete, können wir sicher sein, dass die paar ständig am Präsidium herumhängenden Journalisten Lunte riechen und uns folgen. Und dann kleben sie uns während des Einsatzes an den Fersen. Sobald wir den Boulevard de Sébastopol erreichen, gebe ich Gas.«
Am Boulevard de la Chapelle, etwa zwei bis drei Kilometer von Émérys Wohnhochhaus entfernt, schaltete Calderone Blaulicht und Sirene wieder aus, die seit Châtelet in Aktion gewesen waren. Zügig aber unauffällig setzte der Wagen seine Fahrt fort.
Mistral drehte sich zu Paul Dalmate um.
»Paul, bei der Polizei liegen die Dinge ganz einfach. Man verhaftet Verbrecher und bringt sie vor Gericht. Selbstjustiz gibt es nicht. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
»Leider nicht.«
In der Wache des 9. Arrondissements duckten sich drei junge Beamte unter dem Gewitter, das sich über ihnen entlud. Ihr Dienststellenchef schäumte vor Wut. Soeben hatte er erfahren, dass ein gewisser Olivier Émery, der sich bei einem Fall von Ruhestörung als Polizist ausgegeben hatte, nur wenige Tage zuvor von dem Team dabei erwischt worden war, wie er auf offener Straße urinierte. Pflichtschuldig gab er die Information an die Einsatzleitung der Kriminalpolizei weiter.
1.15 Uhr. Olivier Émery stieg aus der letzten Metro und machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung im Hochhaus. Nach der Attacke der Jugendlichen musste er doppelt vorsichtig sein. Er musterte die wenigen Fußgänger mit erhöhter Wachsamkeit und stellte sicher, dass das Rasiermesser frei beweglich an der Lederschnur hing und jederzeit einsatzbereit war.
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M ITTWOCH , 27. A UGUST 2003
1.15 Uhr. Im Wohnblock gab es keinen Hausmeister. Kein einziger Briefkasten trug den Namen Émery. Nach einer kurzen Beratung mit Mistral und Calderone fuhren die Polizisten des Einsatzteams mit dem Aufzug in die achtundzwanzigste und damit oberste Etage, um von dort Stockwerk für Stockwerk hinunterzusteigen und die Namensschilder an den Türen zu überprüfen, sofern es solche gab.
Abseits des Eingangs sprachen Mistral, Calderone und Dalmate mit zwei jungen Mädchen,
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