Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Schwein nicht mehr hören! Ich will dieses Schwein nicht mehr hören! Dalmate senkte die Waffe.
»Vorsicht!«, rief Mistral, dem siedend heiß das Gespräch mit den drei Jugendlichen eingefallen war. »Das Rasiermesser!«
Doch es war zu spät. Eine Tausendstelsekunde genügte, um eine tiefe, rote Spur über Dalmates Gesicht zu ziehen. Die scharfe Klinge fuhr über Wangen, Lippen, Kinn und die Unterarme, die Dalmate schützend erhoben hatte. Dalmate schoss nicht. Er ließ die Waffe fallen, hob die Hände vor das Gesicht und stieß einen Schmerzensschrei aus. Mit gezücktem Rasiermesser ging Émery auf Mistral los und rempelte ihn an. Den ersten Streich in Richtung seiner Halsschlagader konnte Mistral noch parieren. Der Aufprall war jedoch so hart, dass Mistral sein Handy verlor, das auf den Boden aufschlug und in mehrere Teile zerbrach. Jetzt war es stockfinster. Er konnte Émery nicht mehr sehen und schaffte es nicht, seinen Arm festzuhalten. Jede Minute rechnete er mit einem Angriff. Émery flüchtete ins Treppenhaus.
Jean-Pierre durchlitt in seinem Haus in Pontoise ein hoffnungsloses Martyrium. Er spürte, wie das Lebenslicht seines Zwillingsbruders flackerte. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie gemeinsam getötet hatten. Vornehmlich Frauen. Nachdem sie sich endlich gefunden hatten und von ihrem unvollständigen »ich« zum befriedigenden »wir« übergegangen waren, hatten ihre Irrfahrten immer wieder zu Morden geführt. Jean-Pierre liebte den Kitzel, und der andere Jean-Pierre folgte ihm. Mehrfach waren sie im letzten Augenblick geflohen und außer Landes gegangen. Sein Bruder hatte die Journalistin ermordet, die alles aufzudecken drohte, sowie zwei weitere Frauen, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken. Jean-Pierre war dank des Blutbades, das der andere Jean-Pierre angerichtet hatte, aus dem Gefängnis freigekommen. Jetzt aber befürchtete er, dass der andere Jean-Pierre sterben würde.
Der brennende Schmerz in Dalmates Gesicht wurde immer unerträglicher. Seine Hände konnten den Blutstrom nicht hemmen, der ihm zwischen den Fingern hindurch aus Mund und Hals quoll. Er taumelte auf die Aufzüge zu und tastete nach den Knöpfen. Émery verließ die Treppe im ersten Stock. Mistral blieb ihm auf den Fersen. Mit einem Satz sprang Émery über die Hindernisse im Flur und wandte sich zu dem Fenster am entgegengesetzten Ende, das ins Freie führte. Nur ein einziges Stockwerk! Émery schätzte, dass er hier die Chance hatte zu springen, ohne sich etwas zu brechen.
Mistral war zwar außer Atem, doch er schaffte es, Émery in dem stockdunklen Flur am Kragen zu erwischen. Gleichzeitig rammte er ihm ein Knie in den Rücken, um ihn zu Fall zu bringen. Émery wehrte sich wie eine Furie. Seine blindwütigen Stöße mit dem Rasiermesser rissen tiefe Schnittwunden in Mistrals Unterarme. Um die Sache schnell zu einem Ende zu bringen, versuchte Émery auf Mistrals Kehle zu zielen. In diesem Augenblick jedoch packten zwei kräftige Hände zu und hielten ihn fest. Émery schrie vor Schmerz auf. Einem der Polizisten, die sich von oben nach unten vorgearbeitet hatten, war es gelungen, zu Mistral vorzudringen. Émery hatte sich mit seinem Rasiermesser an Gesicht und Händen verletzt.
Mistrals Unterarme bluteten. Sein Herz pochte zum Zerspringen. Er fuhr sich mit den Händen über Gesicht und Hals, um sich zu vergewissern, dass er keine schwereren Verletzungen davongetragen hatte. Mistral hatte entsetzliche Angst ausgestanden, und die Narbe, die er wenige Monate zuvor durch einen Messerstich davongetragen hatte, schmerzte plötzlich wieder. Er ertappte sich dabei, dass er am liebsten laut und nervös losgelacht hätte. Plötzlich war er wieder er selbst.
Endlich nahte Hilfe. Jemand hatte einen Krankenwagen gerufen. Die Bewohner des Hochhauses kamen aus ihren Wohnungen und fotografierten oder filmten mit ihren Handys. Sie würden die Fotos der Presse verkaufen oder ins Internet stellen. Auch die ersten Journalisten waren bereits da. Da die Polizei weder gefilmt werden wollte noch Kommentare gab, hielten sich die Journalisten an den jungen Mann, den Émery mit dem Rasiermesser am Kinn verletzt hatte. Je öfter er befragt wurde, desto mehr schmückte er die Geschichte aus, wie er dem Monster entkommen konnte, das mit dem Rasiermesser auf ihn losgestürzt war. Seine beiden Freunde saßen daneben, lachten laut und schlugen sich auf die Schenkel.
Calderone trat zu Mistral, der sich ein wenig abseits des Trubels
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