Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
sechs Morde. In Pontoise fanden sich zweimal die Spuren eines Rechtshänders, einmal die eine Linkshänders. In allen Fällen waren die genetischen Fingerabdrücke identisch. Sollte es sich bei den Zwillingen allerdings um Brial und Émery handeln, waren die körperlichen Unterschiede gewaltig.
»Darf ich den Porto öffnen?«
»Nur zu. Ich besorge uns Gläser«, antwortete Mistral.
Im 18. Arrondissement erkannten sowohl die Kneipenwirte als auch ein paar Stammgäste in dem Phantombild den Mann, der so betrunken war, dass er kaum telefonieren konnte. Alle sagten aus, dass sein Gesicht schrecklich zugerichtet war und dass man wohl kaum eine Entschuldigung für übermäßiges Trinken brauche, wenn man so aussah. In einem der Lokale erzählte ein Gast, dass er sich gefragt hätte, warum der Kerl den öffentlichen Fernsprecher suchte, obwohl er ein Handy in der Hand hatte.
»Als ich ihn darauf ansprach, sagte er zu mir: ›Gute Idee.‹ Ich musste ihm helfen, die drei Treppenstufen am Ausgang zu bewältigen. Er war dazu allein nicht mehr in der Lage. Beim Gehen musste er sich an den Häusermauern abstützen.«
Paul Dalmate und Gérard Galtier tranken langsam und genüsslich ihren Porto. Interessiert hörten sie Jacques Thévenot zu, der ihnen seine Theorien zu eineiigen Zwillingen im Allgemeinen und Spiegelzwillingen im Besonderen darlegte. Anschließend wandte sich Mistral an Dalmate.
»Hat Odile Brial schon irgendetwas ausgesagt?«
»Sie weint nur still vor sich hin. Im Augenblick ist Ingrid bei ihr. Ich habe ihr von den DNA-Funden und dem Handy erzählt, Sie tut so, als wäre ihr alles völlig egal, aber sie hat durchaus verstanden. Ich wollte gerade von Thomas sprechen, als Sie mich anriefen.«
»Von Thomas? Welchem Thomas?«, wunderte sich Mistral.
»Sie meinen sicher den Didymus.«
Der Psychiater und Dalmate wechselten lächelnd einen Blick, der Einverständnis verriet.
»Richtig. Der Didymus!«
»Könnten Sie uns vielleicht eine Erklärung liefern? Ich fürchte, wir können Ihnen nicht ganz folgen«, bat Calderone die beiden.
»Es waren die Zitate aus dem Buch Prediger, die mich auf die Idee gebracht haben«, erläuterte Dalmate, an dessen eintönige Stimme sich langsam alle zu gewöhnen begannen. »Der Mörder schreibt: ›Darum verdross es mich zu leben, denn es war mir zuwider, was unter der Sonne geschieht, dass alles eitel ist und Haschen nach Wind‹, oder: ›Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit‹. Daher habe ich mich einmal intensiver mit der verlorenen Generation beschäftigt, dem Thema des Romans ›Fiesta‹ von Ernest Hemingway, dessen englischer Titel ebenfalls zitiert wurde. Zwillinge, die bei der Geburt getrennt werden, suchen einander, weil sie wissen, dass der andere existiert. Später aber werden sie erneut getrennt und müssen durch die Hölle der Trennung, weil sie gemordet haben. So weit meine Schlussfolgerungen.«
In dem Büro herrschte tiefes Schweigen. Endlich fragte Mistral:
»Und was hat das mit Thomas und diesem Didymus zu tun?«
Ein schwaches Lächeln erschien auf Dalmates Gesicht.
»Odile Brial redet mich ständig als Pfarrer an. Also habe ich beschlossen, mich wie ein Pfarrer zu benehmen. Der Thomas, von dem die Bibel berichtet, heißt auch der Zwilling. Didymus ist nur das griechische Wort dafür. Ich kann sie doch nicht enttäuschen, auch wenn sie mich Satan nennt, seit sie Viviane gesehen hat.«
Den beiden Kripobeamten und dem Psychiater gefiel dieser leise Humor.
»Gérard? Wie ging es mit Viviane Brial weiter?«
»Nachdem sie ihre Schwester gesehen hat, ist sie völlig in sich zusammengesunken. Sie hat sich die Nase geschnäuzt, ein Glas Wasser getrunken und mich dann beschimpft. Ich dachte, sie würde endlich auspacken, aber leider war das nicht der Fall. Wenn wir jetzt allerdings die Sache mit den Zwillingen zur Sprache bringen, wird es eng für sie.«
Die Nacht schritt voran, und die Müdigkeit drohte Mistral zu übermannen. Längst konnte er sich nicht mehr erinnern, wie viele Kaffees und Vitamin-C-Tabletten er im Laufe des Tages vertilgt hatte. Sein Magen machte ihm zu schaffen, und er wusste, dass er der fortschreitenden Erschöpfung nichts mehr entgegensetzen konnte. Zusätzlich zu Schmerzen in Rücken und Schultern hinderte ihn rasendes Kopfweh daran, sich klar auszudrücken. Lediglich die Adrenalinstöße versorgten ihn noch mit vorübergehender Energie. Die Hypothese von den
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