Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
könnte«, lächelte Mistral, »denn das hieße, dass wir mit unseren Ermittlungen schnell vorwärtskommen. Aber nach allem, was wir bisher haben, zweifele ich eher daran. Doch ich wollte Sie etwas ganz anderes fragen: Heute habe ich in den Nachrichten von der Zunahme der Todesfälle aufgrund der Hitze gehört. Hundertachtzig Prozent! Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«
»Absolut nicht. Wir wissen nicht mehr aus noch ein. Es ist eine Katastrophe, und die Öffentlichkeit hat keine Ahnung. Die Leichenhallen der Krankenhäuser sind hoffnungslos überfüllt. Die dehydrierten Patienten, die wir in die Kliniken bringen, werden mangels Platz inzwischen schon auf den Fluren untergebracht. Wenn Sie dann noch bedenken, dass jetzt im August viele Leute in Urlaub sind und überall nur mit der halben Belegschaft gearbeitet wird ...«
Mit einem Becher Kaffee in der Hand kehrte Mistral anschließend in sein Büro zurück.
»Kaffee nach fünf? Kein Wunder, dass Sie nachts nicht schlafen können«, meinte Calderone.
»Ich kann auch so nicht schlafen, ob ich nun Kaffee trinke oder nicht. Und jetzt, wo wir Arbeit haben, tut es gut, sich ein bisschen aufzuputschen.«
»Könnte es vielleicht sein, dass Ihnen die Arbeit gefehlt hat? Oder irre ich mich?«
»Eher nicht.«
Der Mann war wütend. Wieder einmal war er bei der Telefonistin des Senders FIP abgeblitzt. Und dabei wollte er doch nur das eine: Reden. Einmal im Leben wollte er mit einer dieser Frauen reden, die so geheimnisvolle, bezaubernde Stimmen hatten, mit einer dieser Frauen ohne Gesicht. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass eine von ihnen mit ihm ganz allein sprach. Nur mit ihm und nicht mit den Tausenden Männern, die – dessen war er sich ganz sicher – genau das Gleiche wünschten. Er sehnte sich nur nach ein paar Minuten geflüsterter Worte, wollte hören, wie ihre Samtstimme seinen Vornamen aussprach, wollte ein wenig schwatzen – nicht lange, aber dann und wann, wie bei alten Freunden. Aber nein. Dieser kleine Gefallen wurde ihm von einem Zerberus verweigert, der die Macht besaß, nein zu sagen. Wieder einmal sah er sich mit dem Verbot konfrontiert, das ihn seit Jahren verfolgte.
Der Mann war todmüde. Er hatte seinen Beruf satt. Immer nur für andere da sein! Immerhin besaß das Einsatzfahrzeug wenigstens eine Klimaanlage, sonst hätte er nicht gewusst, wie er das durchhalten sollte. Die Witzeleien seiner Kollegen störten ihn ganz besonders. Zwar tat er so, als lache er mit ihnen, aber von sich aus trug er nichts zu den Gesprächen bei. Sobald es möglich war, wusch er sich die Hände und besprühte sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, jemanden zu berühren, und kein Wasser in der Nähe war, rieb er sich minutenlang mit einem Papiertaschentuch ab. Dabei schnappte er manchmal überraschte Blicke seiner Kollegen auf.
Der Mann fuhr langsam. Er war auf dem Weg zum zweiten Akt , wie er es nannte. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet und nur zweimal eine kurze Pause machen können, um ein Sandwich zu essen und eine Flasche Wasser zu trinken. Die Notfälle warteten nicht, vor allem nicht bei dieser Hitze. Er fuhr nach Hause, zog sich um und nahm eine lange, kalte Dusche. Danach suchte er seine Utensilien für den zweiten Akt zusammen.
Schließlich saß er wieder am Steuer seines Ford und fuhr durch Paris. Zerstreut lauschte er der Jazz-Sendung auf FIP, die seit einer Viertelstunde lief. Mit heruntergekurbelten Scheiben fuhr er langsam durch die Straßen und hörte John Coltrane. Zwar herrschte im Auto ein Luftzug, der ihn jedoch nicht erfrischte. Zu seiner Rechten entdeckte er eine Kneipe und einen Parkplatz, der dem Lieferverkehr vorbehalten war. Der Mann zuckte die Schultern. Kaum anzunehmen, dass im August jemand eine Lieferung bekam. Er gönnte sich eine Pause, setzte sich an einen Tisch, bestellte ein Omelett und trank nach und nach drei Gläser Bier. An den Mord in der Rue Madame dachte er schon nicht mehr. Und er zog es vor, auch nicht an den zu denken, den er gerade vorbereitete. Nachdem er einen doppelten Espresso getrunken und eine horrende Rechnung bezahlt hatte, fuhr er – immer noch langsam – weiter. Die Sendung Jazz auf FIP neigte sich ihrem Ende zu.
Plötzlich hatte der Mann das Gefühl, als durchdringe eine glühende Spitze sein linkes Auge. Er wusste, dass er einen Anfall bekommen würde, doch das passte ihm jetzt überhaupt nicht ins Konzept. In heller Panik hielt er an, würgte den Motor ab
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