Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
müssen.«
»Leider ja«, nickt Calderone. »Was war eigentlich die Todesursache?«
»Der Arzt sagt, dass sie erdrosselt wurde und dass die Spiegelscherben und die Vergewaltigung möglicherweise erst danach kamen. Aber nach der Autopsie wissen wir mehr.«
Der Gerichtsmediziner räumte seine Utensilien zusammen, verabschiedete sich von »den Lebenden« und ging »Luft schnappen und eine Zigarre rauchen, um die Ausdünstungen loszuwerden«.
Die Polizisten standen noch vor der Wohnung, als die Leute von der Bestattungsfirma mit einem großen, verschließbaren Plastiksack eintrafen. Wie alle anderen beschwerten sie sich über den fehlenden Aufzug. Calderone wies ihnen den Weg, Die vier Männer machten sich schweigend an die Arbeit. Nachdem man ein Schildchen mit dem Namen der Toten und der bearbeitenden Polizeidienststelle um den Knöchel der Leiche gebunden hatte, wurde sie in den Sack gelegt und der Reißverschluss zugezogen. Mit geübten Bewegungen griffen die Bestatter nach den Handschlaufen, hoben den schweren Sack auf und schleppten ihn schnaufend nach unten.
Zwei Männer von der Spurensicherung, ganz in Weiß gehüllt, zogen alle Vorhänge zu und versprühten mit einer Art Spritzpistole einen feuchten Nebel, zunächst rings um den Leichenfundort, später dann auch in der restlichen Wohnung.
»Mit diesem Mittel kann man Blutspuren auch dann sichtbar machen, wenn sie weggewischt wurden«, erklärte Mistral Dalmate und Calderone. »Bei positiven Funden entsteht auf der Spur eine Art bläuliches Leuchten.«
»Ja, aber wozu sollte das hier gut sein?«, wunderte sich Dalmate.
»Weil wir es ganz genau wissen wollen«, antwortete Mistral. »Stellen Sie sich zum Beispiel einmal vor, der Mörder hätte mit Blut irgendetwas geschrieben. Manche machen das. Und dann hätte er sich umentschieden und alles wieder weggewischt. So etwas kann Hinweise geben.«
Die Techniker beendeten ihre Arbeit mit negativem Resultat. In der Wohnung fanden sich keine gesäuberten Blutspuren.
Calderone versiegelte die Wohnung.
Unten luden die Bestatter Élise Normans Leiche in ihren schwarzen Lieferwagen. Fassungslos starrten Farias und Ingrid Sainte-Rose auf die sechs anderen Leichensäcke, die bereits in den Fächern lagen.
»Sind das alles Tote?«, fragte Ingrid ungläubig.
»Was denken Sie denn?«, fragte der Chefbestatter spöttisch. »Glauben Sie, dass wir die Säcke aus Jux und Tollerei durch die Gegend kutschieren? Ich weiß nicht, ob Sie auf dem Laufenden sind, aber die Leichenhäuser sind zum Bersten voll. Wir sind dicht. Bis jetzt haben wir keine Ahnung, wo wir die alle abladen sollen – bis auf eure Leiche. Die kommt auf den Seziertisch.« Er weidete sich an der Bestürzung der Polizisten und zündete sich genüsslich mit einem nach Benzin riechenden Zippo eine Zigarette an, wobei er gut achtgab, seinen wie ein Fahrradlenker geschwungenen Schnurrbart nicht anzusengen.
»Die anderen im Wagen sind alte Leute. Unsere Leitstelle muss uns erst noch mitteilen, wo sie hinkommen. Die Familien sind natürlich informiert, aber jetzt müssen wir sie zwischenlagern, bis über die Art der Bestattung entschieden worden ist. Weil aber die meisten Leute noch in Urlaub sind, dauert das natürlich seine Zeit.«
»Das ist ja völlig verrückt. Wieso weiß niemand etwas davon?«, fragte Farias.
»Es ist eben so. Wir karren den ganzen Tag Leichen durch die Stadt. Die ganze Zeit haben wir den Eindruck, dass wir allein auf weiter Flur kämpfen. So, jetzt müssen wir aber dringend los. Gut, dass der Laderaum gekühlt ist.«
Sprachlos starrten José und Ingrid dem Lieferwagen nach.
»Glaubst du, er übertreibt?«
»Vielleicht ist es seine Art, mit seinem Job fertig zu werden. Stell dir doch mal vor, du müsstest den ganzen Tag lang Leichen transportieren – entweder, du fängst an zu spinnen, oder du rastest aus.«
Die Gruppe kehrte ins Präsidium am Quai des Orfèvres zurück. Mittag war längst vorbei. Im Auto schaltete Mistral zerstreut einen Nachrichtensender ein. Die Pariser Feuerwehr bestätigte einen Anstieg der Sterbefälle in der Hauptstadt um hundertachtzig Prozent. Mistral drückte nacheinander die Knöpfe seines Autoradios. Überall das Gleiche. Die allgemeine Anspannung schien zu steigen. Journalisten begannen sich der Sache anzunehmen. Ärzte und Sanitäter wurden interviewt. Doch niemand wagte eine Erklärung. Es war, als stünde man fassungslos vor einem Geschehen, das später als »nationale Katastrophe« in die
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