Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
gesehen? Ihre Hände sind gefesselt.«
»Wir lassen die Fesseln erst in der Gerichtsmedizin aufschneiden, nachdem wir sie fotografiert haben«, nickte Mistral. »Es ist Industrieklebeband. Vielleicht finden wir Spuren auf dem Material. Seit wann ist sie tot? Ungefähr?«
»Auf die Schnelle würde ich sagen ... so zwei, höchstens drei Tage. Der Verwesungszustand ist da nicht sonderlich aussagekräftig. Das geht bei diesem Wetter viel schneller als gewöhnlich. Ihr Gesicht ist schon jetzt kaum noch zu erkennen. Sie sehen ja, ihre Gliedmaßen sind frei beweglich. Die Leichenstarre lässt nach etwa zwei Tagen nach.«
Während er sprach, bewegte der Arzt die Beine der jungen Frau, als hielte er eine Vorlesung vor einem Hörsaal voller Studenten. Mistral nahm seine Kommentare mit dem Diktafon auf.
»Hier sehen wir große Schmeißfliegen. Sie haben bereits Eier gelegt. Jeder gute Kriminalist weiß, dass Insekten unmittelbar nach Eintritt des Todes kommen und sich bis zu drei Jahre lang mit einer Leiche beschäftigen.«
»Genau. Die berühmten acht Insektengruppen«, bestätigte Mistral. »Die Fliegen sind immer die Ersten. Diese hier haben bereits Eier gelegt, und neue Fliegen sind geschlüpft. Damit können wir in etwa von zwei Tagen ausgehen.«
Der Arzt nickte mit seinem großen, roten Strubbelkopf.
»Die meisten Leute denken, dass die Fliegen vom Geruch angezogen werden. Dabei tauchen die ersten schon wenige Minuten nach dem Tod auf, wenn noch absolut nichts zu riechen ist.«
Calderone und Dalmate, mit Taschentüchern vor der Nase, beendeten die Videoaufnahmen von der Wohnung und lauschten den Ausführungen des Rechtsmediziners.
»Ich kann Ihnen außerdem mit Bestimmtheit sagen, dass sie hier gestorben ist. Sie wurde nach ihrem Tod weder transportiert noch umgedreht. Die Leichenflecken sind genau da, wo sie sein müssen.«
»Ich weiß. Sobald das Herz stehen bleibt, setzt die Blutzirkulation aus, und das Blut sammelt sich in den tiefer liegenden Teilen.«
Der Arzt schob seine Brille auf die Nase und untersuchte die Leiche in allen Einzelheiten. Dabei konzentrierte er sich besonders auf das Gesicht, die Gliedmaßen und die gefesselten Hände.
»Bei der Autopsie werden wir noch Genaueres feststellen, aber ich glaube, die junge Dame hat sich heftig verteidigt und einige Schläge einstecken müssen. Sie hat Schürfwunden an den Armen. Außerdem befindet sich auf ihrem linken Unterarm ein blauer Fleck, als hätte sie ihr Gesicht schützen wollen. Eine ganz typische Verteidigungsverletzung.«
Mistral hörte dem Gerichtsmediziner aufmerksam zu und betrachtete die Schlagspuren auf der Leiche, die sich mit den bläulichen Leichenflecken mischten. Calderone filmte.
»Sehen Sie hier. Unter den Fingernägeln befindet sich eine Substanz, die wir in der Gerichtsmedizin genauer untersuchen werden. Ich wette, es handelt sich um Wachsreste.«
Der Arzt zeigte auf einen abgebrochenen Fingernagel, unter dem sich bräunliche Partikel befanden.
»Wenn Sie danach suchen, werden Sie wahrscheinlich Spuren auf dem Parkett finden. Das Opfer hat versucht, sich an allem nur Möglichen festzuhalten. Sie wollte ihrem Mörder entkommen.«
Dann wies er auf Verletzungen im Innenbereich der Oberschenkel und im Intimbereich.
»Außerdem wurde sie vergewaltigt. Die Autopsie wird klarstellen, ob es vor oder nach Todeseintritt war.«
Mistral sah, was der Arzt meinte.
»Vincent, rufen Sie die Einsatzleitung an, sie sollen uns ein Bestattungsunternehmen schicken. Die Leiche muss in die Gerichtsmedizin. Und wenn gleich alle draußen sind, überprüfen wir das Parkett. Der Erkennungsdienst wartet auch darauf, mit Blue Star durch die Wohnung gehen zu können.«
Während Calderone telefonierte, wandte sich Dalmate an Mistral.
»Der Kerl hat sich übrigens ganz ordentlich bedient. Das Opfer besaß einen Laptop und ein Handy. Von beiden sind nur noch die Kabel da, und auch den Drucker hat er nicht mitgenommen. Die Handtasche hat er über dem Bett ausgeleert; alles einigermaßen Wertvolle ist fort. Vielleicht war es ja ein Raubmord.«
»Gut, dass Ihnen der Diebstahl aufgefallen ist. Aber ich glaube kaum, dass die Beute der Grund war. Man metzelt niemanden derart nieder, nur um etwas zu klauen! Ich denke, dass es eine andere Erklärung geben muss. Diese Spiegelscherben in Hals und Mund, das bedeckte Gesicht, die Fesseln, der Text – das alles macht die Sache nicht einfacher. Wir werden das Leben der Dame komplett durchleuchten
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