Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
ich das. Ich hatte ohnehin vor, über das Wochenende in Paris zu bleiben. In Ordnung. Geh bei der Einsatzleitung vorbei, Paul, und informiere die Kollegen, dass ich die Bereitschaft bis Montagmorgen übernehme. Sie sollen meine Handynummer auf die Liste setzen.«
Mistral verstaute seinen Aufzeichnungen in einer alten Aktentasche und legte die Unterlagen aus Pontoise in eine große Plastiktüte. Gerade als er Clara anrufen wollte, läutete sein Mobiltelefon. Seine Frau stand bereits im Parkhaus und erwartete ihn. Auf dem Weg nach unten überlegte Mistral, wie er der anstehenden Diskussion über seine Schlaflosigkeit am besten ausweichen konnte.
22.15 Uhr. Der Mann hatte aufmerksam mehrere Zeitungen gelesen, über die Morde jedoch nichts gefunden. Er faltete die Zeitungen ordentlich zusammen und legte sie zu dem anderen Papier, das er korrekt von anderem Müll trennte. Er war nicht müde. Das ungute Gefühl im Magen, das ihn seit dem Verschwinden seines Rucksacks nicht mehr verließ, konnte er inzwischen als Angst definieren. Der Mann stellte sich unter die kalte Dusche und ließ das Wasser mehrere Minuten lang an sich hinunterlaufen. In seiner Wohnung staute sich die Hitze so, dass er kaum atmen konnte. Er beschloss, noch einmal auszugehen, und nahm vorsichtshalber seine Medikamente ein. Er zog lediglich ein T-Shirt und eine Bermuda an, setzte sich ans Steuer seines Wagens und schaltete das Autoradio ein.
»Sie hören FIP Paris auf 105,1. Es ist Viertel vor elf, und die Nacht wird heiß. Sehr heiß sogar. Schön, dass Sie sie mit uns verbringen. Obwohl Diana Krall jetzt für Sie Autumn Leaves singt, sind wir noch weit vom Herbst entfernt. Genießen Sie die schöne Sommernacht.«
Die Sinnlichkeit der Stimmen von Moderatorin und Sängerin bannte den Mann einige Momente reglos in seinen Sitz. Schließlich startete er den Wagen, schnallte sich an und fuhr die Rue Saint-Lazare hinunter, vorbei an den Printemps-Kaufhäusern, und blieb an der roten Ampel stehen. Eilige Autos mit fest geschlossenen Scheiben und bis zum Anschlag aufgedrehter Klimaanlage überquerten die Kreuzung und brausten an ihm vorbei den Boulevard Haussmann hinauf. Der Mann betrachtete die Auslagen der Kaufhäuser. Das überlebensgroße Plakat eines nackten Topmodels warb für ein Schönheitsprodukt. Der Mann musterte die schöne Frau, die ihre Arme über der Brust kreuzte und sorgfältig die Geheimnisse ihres Körpers verbarg, und geriet ins Träumen. In der Nähe der Kirche St. Madeleine entdeckte er eine offene Kneipe, blieb auf einem Halteplatz für Taxis stehen und lauschte dem Ende des Chansons. Schließlich betrat er die Kneipe, bestellte am Tresen ein Bier und ging zur Toilette, die sich wie fast immer im Untergeschoss neben dem öffentlichen Telefon befand. Er wählte die Nummer des Senders. Eine Frau meldete sich. Eine leise Hoffnung stieg in ihm auf.
»Guten Abend. Sind Sie die Moderatorin?«
»Nein. Was wünschen Sie?«
»Ich möchte nur ganz kurz mit der Frau sprechen und ihr sagen, dass ich ihre Moderation ganz wunderbar finde und dass sie sich meiner Meinung nach viel zu sehr zurückhält. Aber auch die Musik ist toll. Das war es eigentlich schon.«
»Gut, ich werde es ihr ausrichten.«
»Nein!«, rief der Mann verzweifelt. »Lassen Sie es mich ihr selbst sagen. Ich will ihre Stimme hören.«
Die Veränderung seiner Stimme fiel ihm selbst auf. Er beruhigte sich mühsam und fuhr fort:
»Entschuldigen Sie bitte, aber es ist diese Hitze, die mich fertigmacht. Abgesehen von meinen Arbeitskollegen habe ich niemanden, mit dem ich reden kann. Ich bitte Sie nur um eine halbe Minute. Wenn es zu lang wird, können Sie die Verbindung ja unterbrechen.«
»Ich verstehe Ihr Problem, Monsieur, aber ich kann trotzdem leider nichts für Sie tun. Sie können sich sicher vorstellen, dass wir jeden Tag eine Menge solcher Anrufe bekommen.«
Die gesetzte Stimme der Telefonistin beruhigte den Mann.
»Ich bitte Sie inständig! Nur ein einziges Mal. Danach rufe ich Sie auch nie wieder an.«
»Ich werde Ihre Bitte weitergeben. Aber heute Abend ist es nicht mehr möglich.«
»Dann vielleicht morgen?«
»Dazu kann ich nichts sagen, Monsieur. Nachts allerdings dürfen wir auf keinen Fall Anrufe durchstellen. Auf Wiederhören.«
Die Telefonistin legte auf. Der Mann hielt den Hörer noch zwei oder drei Sekunden an sein Ohr und lauschte der Stille. Nachdem er den Hörer sanft und mit einem Funken Hoffnung aufgelegt hatte, wischte er sich die Ohrmuschel
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