Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
anstrengen musstest, deinen Teller zu leeren. Dabei isst du sonst eher zu schnell.«
»Ich war nie besonders dick.«
»Mag sein, aber so mager wie jetzt auch nicht. Was ist los mit dir? Was stimmt nicht? Was ist es, das dich am Schlafen hindert?«, fragte Clara mit weicher Stimme und sanftem Blick.
Mistral beschloss, wenigstens ein bisschen Ballast abzuwerfen.
»Ehrlich gesagt weiß ich das selber nicht. Schon in den Ferien konnte ich manchmal nicht schlafen. Aber seit ich wieder arbeite, ist es schlimmer geworden. Es ist, als hätte ich Sorgen, obwohl es nicht den geringsten Grund dafür gibt. Tagsüber ist mir manchmal ein wenig schläfrig zumute, aber es geht schon. Aber in der Nacht bin ich einfach nicht müde. Ich schlafe höchstens stundenweise.«
»Gib auf dich acht, Ludovic. Wenn du den Bogen überspannst, bricht er irgendwann. Aber vielleicht könnte ich dir helfen.«
»Schon ... ich weiß. Natürlich habe ich auch schon darüber nachgedacht, aber ich glaube nicht, dass ich mich in einer Situation befinde, wo der Bogen brechen könnte, wie du es so schön ausdrückst.«
»Woran denkst du, wenn du nicht schläfst?«
»An nichts Besonderes. Ehrlich. An das, was tagsüber passiert ist, an die Kinder, an dich – nichts Bestimmtes. Weißt du eigentlich, dass du eine schöne Stimme hast?«
»Lenke jetzt bitte nicht ab, Ludo. Wie heißt noch mal der Psychiater, den du bei deinem letzten Fall kennengelernt hast?«
»Jacques Thévenot. Warum?«
Schon während er sich erkundigte, wusste Ludovic, welche Fragen folgen würden. Er kannte seine Frau. Trotz ihrer sanften, lächelnden Miene konnte sie ausgesprochen hartnäckig sein.
»Du fandest ihn ganz sympathisch, nicht wahr?«
»Ja. Ein interessanter Mensch. Außerdem hat er Humor. Wieso?«
»Hast du ihn noch einmal wiedergesehen?«
»Nein. Wann auch? In den letzten Tagen war viel zu viel zu tun. Wir haben ein oder zwei Mal telefoniert. Ich wollte wissen, wie es ihm geht.«
Und jetzt, dachte Ludovic, kommt DIE Frage.
»Warum vertraust du dich ihm nicht an?«
»Ich bin schließlich nicht verrückt!«
»Ach, Ludovic, hör doch auf! Du hast auch schon einmal bessere Antworten gegeben, und das weißt du sehr genau. Nicht nur Verrückte, wie du dich so nett ausdrückst, brauchen einen Psychiater.«
»Kommt nicht infrage! So, morgen gehen wir also auf den Flohmarkt. Ich freue mich darauf, Hand in Hand mit dir herumzuschlendern, außerdem kenne ich in der Gegend ein süßes, kleines Restaurant. Wir sollten so gegen zwei Uhr dort sein, vorher ist es rappelvoll. Und auf diese Weise haben wir genug Zeit, uns alles anzusehen.«
»Wir gehen nur hin, wenn du in der Nacht geschlafen hast.«
Ludovic winkte dem Kellner und bat um die Rechnung. Er war der Meinung, sich nicht allzu schlecht aus der Affäre gezogen zu haben. Hoffentlich kam sie nicht noch einmal auf das Thema zurück. Er hatte beim besten Willen keine Lust, ihr zu sagen, warum er sich jede Nacht schlaflos herumwälzte. Sie würde es ohnehin nicht verstehen.
Clara und Ludovic kehrten zurück nach La Celle–Saint-Cloud, jeder im eigenen Wagen. Clara folgte Ludovic, der sehr bedächtig fuhr.
Der Mann machte sich auf den Heimweg. Er fluchte über die Prostituierte, die eine Viertelstunde in seinem Auto verbracht hatte. Im entscheidenden Augenblick war ihr aufgefallen, dass ihr Kunde dünne Handschuhe trug; daraufhin war sie völlig ausgeflippt. Handschuhe dienten dazu, keine Spuren zu hinterlassen. Doch wenn jemand keine Spuren hinterlassen wollte, plante er vermutlich irgendeine Dummheit. Das alles wusste die kleine, kaum siebzehnjährige Nigerianerin, die seit fast zwei Jahren in Paris als Prostituierte arbeitete. Das Mädchen weigerte sich. Sie hatte keine Lust, erstochen zu werden und ihr Leben in einer uralten Karre Tausende Kilometer von daheim auszuhauchen – und das auch noch mit einem sexuell abnormen Kerl als letztem Anblick. Der Mann hatte sie zu beruhigen versucht und erklärt, er habe eine Hautkrankheit und wolle sein Lenkrad nicht mit der Heilsalbe beschmutzen. Doch das Mädchen hatte ihn nicht verstanden. Sie sprach nur wenige Worte Französisch, gerade ausreichend, um die Preise für ihre Dienste mit den Kunden auszuhandeln.
Nachdem sie den Mann, der ihr Angst einflößte, hastig bedient hatte, wollte die junge Prostituierte nur noch abhauen. Gleich bei der nächsten roten Ampel sprang sie aus dem Auto. Mutig geworden beschimpfte sie den Mann in ihrer Sprache als einen »armen
Weitere Kostenlose Bücher