Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
sprechen.
»Haben Sie heute Morgen um 10.45 Uhr moderiert?«
Die Direktorin schüttelte den Kopf. Die Polizistin zögerte kurz, ehe sie weitersprach.
»Nein, das war eine Kollegin.«
»Ich weiß«, gab der Mann zurück. »Sie war traurig. Es ging ihr nicht gut, sie hatte kein Lächeln in der Stimme. Merkwürdig, Ihre Stimme kommt mir völlig unbekannt vor.«
»Das liegt daran, dass ich nicht auf Sendung bin, sondern dass wir miteinander telefonieren. Im Radio hören sich Stimmen ganz anders an«, improvisierte die Polizistin.
Ihr Kollege hatte inzwischen von der Einsatzleitung erfahren, von welcher Telefonzelle aus der Mann anrief. Sie befand sich in der Avenue du Maine im 14. Arrondissement, unmittelbar neben dem Einkaufszentrum Gaˆıté. Er gab Anweisung, unverzüglich ein Team dorthin zu schicken.
»Ich weiß nicht, ob es das Telefon ist. Merkwürdig, es scheint am Ton zu ...«
»Wie heißen Sie, Monsieur? Ich finde es einfacher, sich auszutauschen, wenn man einander beim Namen nennen kann. Außerdem haben Sie mir noch immer nicht gesagt, warum Sie mich sprechen wollten.«
Die Stimme der jungen Polizistin klang vertraulich. Alle hielten den Atem an, denn sie wussten, wie hauchdünn ihre Verbindung zu dem Mann war. Alles hing an der Stimme. Die Polizistin spürte die mangelnde Stabilität ihres Gesprächspartners und wollte keinesfalls zu dick auftragen.
Der Mann telefonierte endlich mit der Moderatorin, die ihn persönlich ansprach. Ihn ganz allein! Und nicht etwa all diese Spinner, Leute wie seine Kollegen, die immer nur Schweinereien im Kopf hatten. Sie würde ihn mit seinem Vornamen anreden; er wäre kein anonymer Niemand mehr für sie. Endlich geschah das, wonach er sich immer gesehnt hatte. Der Mann atmete tief ein und legte den Hörer mit einer knappen Bewegung auf. Nein, es war nicht die richtige Stimme gewesen, nicht die ersehnte Intonation. Diese Stimme vermittelte weder Sinnlichkeit noch Emotionen. Hastig verließ er die Telefonzelle, sehr zur Freude eines dicken, kleinen Mannes mit schwarzem Haar und dunkler, verschwitzter Haut, der bereits ungeduldig wartete. Im Laufschritt überquerte der Mann die Avenue du Maine und sprang über die Sperre, die die beiden Fahrbahnen voneinander trennte. Auf der anderen Seite setzte er sich auf die Terrasse einer Kneipe und beobachtete die Telefonzelle. Kaum hatte er sein Bier bestellt, als vier uniformierte Polizisten auftauchten, den kleinen Dicken aus dem Häuschen zerrten, ihn zu Boden warfen und mit Handschellen fesselten. Instinktiv rieb der Mann sich die Hände, beglückwünschte sich zu seiner Reaktion und verfluchte die Verantwortlichen des Senders, die Bullen, die ihm eine Falle gestellt hatten, und, um das Maß voll zu machen, gleich auch die weibliche Hälfte der Menschheit. Nach dem sechsten Bier verließ er die Kneipe und ging die Rue de la Gaîté hinunter, um in der Station Edgar Quinet in die Metro Richtung Charles de Gaulle-Étoile zu steigen.
Der Tourist aus Bolivien wurde unter tausend Entschuldigungen auf freien Fuß gesetzt. Zwar besaß die Polizei jetzt eine deutlich längere Aufzeichnung als bei den letzten Anrufen, doch das brachte sie zumindest im Augenblick nicht viel weiter. Da der nächste Tag ein Sonntag war, würden sie auch keinerlei neue Anweisungen erhalten. Blieb also Zeit bis Montag, um das weitere Vorgehen zu klären, dachten die beiden Polizisten, als sie das Gebäude von Radio France verließen. Es war auch nicht nötig, den Erkennungsdienst in die Telefonzelle zu schicken, denn der bolivianische Tourist hatte längst alle Spuren verwischt.
Gegen Abend stellte Mistral sich lange unter die kalte Dusche und schluckte anschließend zwei weitere Aspirin. Er hatte immer noch Kopfschmerzen. Das entspannte Plaudern mit Clara kostete ihn Mühe. Es kam ihm vor, als wären seine Kiefer blockiert; er suchte nach einem Vorwand, das Abendessen ausfallen zu lassen.
Am gleichen Abend hatte der Mann noch immer keine Entscheidung getroffen. Sollte er bleiben oder gehen? Er saß auf einer lärmigen Terrasse auf den Champs-Elysées, trank ein Bier nach dem anderen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Endlich beschloss er, die Entscheidung auf Sonntagnachmittag zu verschieben. Im Augenblick hatte er nicht die geringste Lust, sich um irgendetwas zu kümmern. Er fühlte sich wie in einem Wattebausch. Der Lärm erschien ihm weit entfernt. Trotz des vielen Biers war sein Mund trocken. Er wusste, dass die Verbindung von Tegretol und
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