Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Alkohol schuld an diesem Zustand war, doch er hatte auch keine Lust, mit dem Trinken aufzuhören. Das Einzige, was ihn schließlich bremste, war die Rechnung auf der Untertasse, die der Kellner vor ihn hinstellte. Der Betrag war schwindelerregend. Die Champs-Elysées hatten eben ihren Preis!
Ebenfalls an diesem Abend suchte Jeanette Legendre, die gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt war, ihren Vater auf, um ihn zu fragen, ob er einige Tage bei ihr verbringen wolle. Er war so oft allein, der Ärmste! Im Treppenhaus roch es unangenehm nach einer Mischung aus verdorbenem Fleisch und Bohnerwachs. Sie nahm sich vor, den Verwalter darauf anzusprechen. Léonce freute sich über das Angebot seiner Tochter. Auf dem Weg nach unten fragte Jeanette ihren Vater, woher dieser unangenehme Geruch wohl käme. Der alte Mann zuckte die Schultern und meinte, er rieche nichts.
11
S ONNTAG , 10. A UGUST 2003
Acht Uhr morgens. Mistral fiel es schwer aufzustehen. Doch im Bett hielt er es nicht länger aus. Die ganze Nacht hindurch war es ihm viel zu warm gewesen, und er hatte sein Kopfkissen immer wieder umgedreht. Dann und wann hatte er kurz geschlafen. Sein Kopf schmerzte, und er fühlte sich gereizt. Ehe er etwas sagen konnte, trank er erst einmal eine Tasse Kaffee ohne Zucker und nahm zwei Aspirin in der Hoffnung, dass sie dieses Mal wirken würden. Dann telefonierte er mit der Einsatzleitung der Kriminalpolizei. Der Bericht des Beamten in Bereitschaft war dürftig. Die Nacht war unruhig gewesen, bei der Hitze lagen die Nerven blank. Hauptsächlich handelte es sich um Partys mit lauter Musik bei weit geöffneten Fenstern. Nachbarn konnten nicht schlafen und beschwerten sich. Streit führte zu Rangeleien, die Polizei musste einschreiten. Im Grunde war es seit einem Monat immer das Gleiche. Außer solchen Kleinigkeiten gab es jedoch nichts Neues. Die Kripo war nicht gefordert worden.
Nachdem Mistral die Blumen und Sträucher im Garten gegossen hatte, kümmerte er sich um das Frühstück. Beunruhigt betrachtete Clara seine hohlen, unrasierten Wangen und das müde Gesicht, entschied sich aber, nichts zu sagen.
Als Erstes schrieb der Mann morgens nach dem Aufstehen die Träume auf, die ihn während der Nacht heimgesucht hatten. »Ich renne über eine Brücke, deren Ende ich nicht sehen kann«, schrieb er. »Menschen verfolgen mich. Ich weiß nicht, was sie von mir wollen. Ich kenne sie nicht. Ich sollte eine Tür sehen, doch ich kann sie nicht finden. Die Menschen werden mich einfangen.« Wie üblich erschienen ihm die Träume unzusammenhängend; eigentlich sollte er sie entschlüsseln. Er hatte es gelernt. Am Rand notierte er seine Kommentare, doch seine Handschrift war zittrig und kaum lesbar.
Der Mann hatte schlecht geschlafen. Heute sollte der letzte Akt entdeckt werden. Und zwar mit allen Konsequenzen. Er fühlte sich allerdings nicht wohl genug, um die Folgen zu ertragen. Er stand unter schwerstem Stress. Nach seiner täglichen Gymnastik und dem aus harten Eiern und Sojamilch bestehenden Frühstück nahm der Mann eine kalte Dusche. An seinem Körper entdeckte er die ersten Anzeichen eines Anfalls, der ihn binnen Kurzem fertigmachen würde. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder abwarten, bis es so weit war – was vermutlich noch während des Vormittags geschehen würde –, oder den Anfall sofort selbst auslösen. Die Einnahme von Medikamenten würde zwar den Schmerz lindern, konnte den Ausbruch jedoch nicht stoppen.
Der Mann beschloss, die Initiative zu ergreifen, und wappnete sich für schwerste Schmerzen. Ein Arzt hatte ihm erklärt, dass es in seinem Gesicht eine Stelle gab, deren Reizung einen Anfall verursachen konnte. Sie befand sich unterhalb des linken Kiefergelenks in der Nähe des Ohrs. Der Mann hatte gelernt, damit umzugehen und sie bei der Rasur zu schonen. Nach kurzem Zögern entschloss er sich, sie dieses Mal nicht auszulassen. Mehrfach ließ er den Rasierapparat mit einem gewissen Druck über die Stelle gleiten, passte aber auf, dass er sich nicht schnitt. Der Schmerz ließ nicht lang auf sich warten. Sofort spürte der Mann, wie er sich gleich einem Bohrer in sein Trommelfell fraß und sein linkes Auge zermalmte. Er klammerte sich an den Waschbeckenrand, ehe er sich schwankend umwandte und sich auf sein Bett fallen ließ. Die schon zuvor geschluckten Tegretol-Tabletten boten nur eine schwache Hilfe. Zumindest an diesem Tag jedoch brauchte der Mann keinen weiteren Anfall zu befürchten, auch wenn er den Rest
Weitere Kostenlose Bücher