Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
herrenne, falle ich hin. Dabei mache ich so heftige Bewegungen, dass ich aufwache. Ich schreibe meinen Traum auf und schlafe wieder ein. Manchmal auch nicht. Es ist stärker als ich.
10
S AMSTAG , 09. A UGUST 2003
Drei Uhr morgens. Mistral saß zu Hause in seinem Arbeitszimmer und studierte die Akten der Morde von Pontoise. Er las sie sehr professionell, aufmerksam und mit bereitgelegtem Block und Stift. Schließlich war der Block mit vielen, von Fragezeichen unterbrochenen Sätzen und Kommentaren bedeckt. Es ging um Jean-Pierre Brial, den mutmaßlichen Frauenmörder. An den Fotos der drei Tatorte war irgendetwas, das Mistral störte. Etwas, das nicht passte. Doch er konnte es beim besten Willen nicht finden. Es war nur eine Art Intuition. »Die Fotos aus Pontoise mit denen aus Paris vergleichen!«, schrieb er und fügte hinzu: »Unstimmigkeiten.« Das Ganze umrandete er mehrfach. Anschließend las er seine Aufzeichnungen noch einmal durch. Er nannte sie Stimmungsnotizen, weil er alles aufschrieb, was ihm im Augenblick des Lesens durch den Kopf ging. Er hatte die beiden Mordserien miteinander verglichen und seine Beobachtungen in einer Spalte untereinander aufgelistet. Die zweite Spalte sollte demnächst die zugehörigen Antworten enthalten.
– Was ist der Grund für den ganzen Zirkus? Der Täter kennt seine Opfer nicht (Paris).
– Der Täter verletzt das Gesicht. Das bedeutet normalerweise, dass er seine Opfer kennt oder sie ihn. Trifft zu für Pontoise. Was ist mit Paris?
– Der Täter bedeckt die Gesichter der Frauen. In Paris ebenso wie in Pontoise. Davon stand nichts in der Presse. Woher wusste es der Pariser Täter? Wurde der Richtige verhaftet?
– Die beiden Pariser Opfer sind sehr verschieden, haben vermutlich nichts gemeinsam. Man sollte aber nichts ausschließen. Wenn doch, was ist es?
– Täter bringt sein Werkzeug mit = organisierter Mörder.
– Falls organisiert = wählt seine Opfer nicht zufällig aus. Nimmt sich Zeit zum Suchen. Überlässt nichts dem Zufall. Warum ausgerechnet diese Frauen?
– Falls doch rein zufällig = keine Möglichkeit zur Verfolgung. Passt nicht zur bewussten Verletzung der Gesichter. Bewusste Gesichtsverletzung = Täter kennt in aller Regel sein Opfer.
– Familiäre Situation von J.-P. B. in Erfahrung bringen.
Mistral legte seine Stimmungsnotizen in den dicken Ordner und klappte ihn zu. Instinktiv spürte er, dass er zwischen dem, was er gerade gelesen hatte, und seinem Wunsch nach Schlaf einen sauberen Schnitt machen musste. Irgendwie musste er den Kopf von den Verbrechen freibekommen. Also griff er nach einem Fotoband mit den schönsten Schwarz-Weiß-Fotos von Chet Baker. Die Bilder verführten ihn auf ganz natürliche Weise dazu, sich auch die Musik des Jazzers anzuhören. Mit Kopfhörern durchforstete Mistral die Musiktitel auf seinem iPod und hielt bei The Touch of your Lips an. Der junge Chet Baker sang, und Mistral verlor sich in der Musik und der Stimme. Im Anschluss hörte er sich noch weitere Titel des Musikers an, vor allem seine Duos mit Stan Getz.
Zu seiner Überraschung musste er gähnen und fühlte sich schläfrig. Er zögerte nicht lange, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.
Drei Stunden später wachte er auf. Ein Albtraum hatte ihn geweckt. Es war immer derselbe. Er versuchte wieder einzuschlafen, schaffte es aber nicht. Regungslos lag er im Bett, um Clara nicht zu wecken. Die jedoch schlief ebenfalls nicht, vermied es aber, sich zu bewegen, damit ihr Mann liegen blieb.
Auf dem Weg zum Flohmarkt in Saint-Ouen telefonierte Mistral mit der Einsatzleitung. Nachdem er keinen Anruf erhalten hatte, wollte er sichergehen, dass alles in Ordnung war. Der Bereitschaftspolizist meldete sich. »Die Nacht war ruhig. Keine besonderen Vorkommnisse; ein paar Schlägereien, aber nichts Gefährliches.« Während Mistral telefonierte, beobachtete Clara heimlich aus dem Augenwinkel sein angespanntes Gesicht, das sich Mühe gab, die Müdigkeit zu verbergen.
Nachdem er aufgelegt hatte, drehte er das Radio lauter. In der Presseschau auf France Info würden die wichtigsten Schlagzeilen der heutigen Zeitungen besprochen. Die Medien berichteten nun zunehmend über die Hitzewelle und auch über die Gesundheitsprobleme vornehmlich alter Menschen. Auf eine Chronik der Ereignisse und Interviews mit Notfallärzten folgten bereits Kommentare, die den Umgang mit Hitzeopfern kritisierten.
Nach dem Ende der Presseschau schaltete Mistral auf FIP um. Die Titelmelodie
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