Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
ungeduldig.
»Öffnen Sie, Monsieur Émery. Wir müssen Sie sprechen.«
»Aber natürlich. Sofort.«
Émery lehnte an der Tür. In der linken Hand hielt er das geöffnete Rasiermesser. Er entriegelte das Schloss, hielt sich aber den Rückzug offen. Falls die Polizisten die Wohnung stürmen sollten, war er zu allem bereit. Aber nein, die beiden jungen Streifenpolizisten, ein Mann und eine Frau in Uniform, warteten ein wenig schüchtern auf der Schwelle, dass sie in die Wohnung gebeten würden. Diskret ließ Olivier Émery das Rasiermesser zuklappen und in die Tasche gleiten.
»Dürfen wir eintreten?«, fragte die junge Frau.
»Aber natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich hatte mich gerade ausgeruht. Mein Dienst hat heute Morgen sehr früh begonnen.«
Der Mann trug über seiner Hose ein einfaches T-Shirt. Beim Anblick seiner starken Muskeln wechselten die beiden Polizisten einen raschen Blick.
Allmählich wurde Émery ruhiger. Die nagelneuen Dienstabzeichen der beiden jungen Polizisten taten ein Übriges. Anwärter im ersten Dienstjahr , dachte er. Theoretisch hatte er nichts zu befürchten. Um ihn zu verhaften, würde man keinesfalls Anfänger schicken. Während der Polizist einen Block bereitlegte, ließ seine Kollegin den Blick durch das Appartement schweifen.
»Sie wohnen hier ja ziemlich spartanisch.«
»Ich komme nur zum Arbeiten nach Paris. Das Wochenende verbringe ich bei meiner Familie auf dem Land. Was ist der Grund für Ihren Besuch?«
Émery war nach wie vor auf der Hut. Seine Linke bewegte sich in der Nähe der Tasche. Im Notfall hätte er das Rasiermesser sofort zur Hand.
»Heute hat sich einer Ihrer Nachbarn offiziell über Sie beschwert. Es handelt sich um einen gewissen Henri Lestrade, der unter Ihnen wohnt. Er beklagt sich darüber, dass Sie jeden Morgen gegen sechs Uhr einen Lärm verursachen, der ihn und seine Frau aufweckt und am Wiedereinschlafen hindert. Ich habe hier eine Kopie der Beschwerde, die ich Ihnen zur Kenntnisnahme überlasse.«
Der ungeheure Druck, der Olivier Émerys Schädel zu sprengen drohte, ließ sofort nach. Auch der bohrende Schmerz in den Ohren ebbte ab. Nur ein Klopfen im linken Auge wies noch darauf hin, dass ein Anfall unmittelbar bevorstand. Wichtig war jetzt, dass er durchhielt, bis die beiden Polizisten gegangen waren. Er wusste, dass es ihn eine außerordentliche Anstrengung kosten würde, zusammenhängende Sätze zu bilden. Die Tabletten, die er immer nur dann schluckte, wenn es ihm gerade einfiel, wirkten nicht ausreichend gegen seine Schmerzen.
Aufmerksam hörte Émery dem Polizisten zu, der ihm die Beschwerde vorlas. Er war sich der neugierigen Blicke der beiden Beamten bewusst und ahnte, was sie empfanden. Jeder, der ihn aus der Nähe sah, zeigte eine Mischung aus Angst und Erstaunen.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich die Leute gestört habe. Seit es so heiß ist, schlafe ich schlecht und wache früh auf. Ich mache dann meine Morgengymnastik. Der Lärm, den man unten hört, dürfte vom Seilspringen kommen. Ich war der Meinung, sie würden nichts davon mitkriegen. Diese Übungen mache ich schon immer, und noch nie hat sich jemand über Lärm beschwert.«
»Gut, das klingt ja wirklich nicht so schlimm«, erwiderte der Polizist. »Können Sie mir denn versprechen, die alten Herrschaften in Zukunft nicht mehr zu stören?«
»Aber selbstverständlich. Ich gehe einfach nach draußen.«
»Dann nehme ich jetzt Ihre Aussage auf und informiere anschließend Ihre Nachbarn. Sie wissen ja, wie alte Leute manchmal sind: Eine Kleinigkeit stört sie schon. Wir sind dazu da, ihnen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Gerade die alten Leute leiden außerdem ganz besonders unter der extremen Hitze.«
Während der Polizist Émerys Aussage aufnahm, sah sich seine Kollegin weiter in der Wohnung um. Ihr Blick blieb an der Eingangstür hängen, wo etwas Großes, Flaches, das fast drei Viertel der Fläche einnahm, mit Zeitungspapier abgeklebt war. Sie fragte sich, was es wohl sein könne. Plötzlich spürte sie den Blick des Mannes und errötete. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Schriftstück zu, an dem ihr Kollege arbeitete.
»Gut, dann nehme ich Ihre Antwort jetzt zu den Akten. Ihr Name ist Olivier Émery. Wann und wo sind Sie geboren?!
»Am 1. November 1965 in Châteauroux im Département Indre.«
»Sie wohnen in der Rue de Budapest 17 in Paris, 10. Arrondissement, in der sechsten Etage rechts. Ganz schön
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