Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
einem Liter Sojamilch hinunter, nahm ein paar Tegretol und ließ sich auf sein Bett fallen.
Der Untersuchungsrichter in Pontoise, Nicolas Tarnos, hatte Mistral zu einem Meeting eingeladen, bei dem auch die Polizeibeamten anwesend waren, die in der ersten Mordserie ermittelt hatten. José Farias fuhr, Paul Dalmate auf dem Beifahrersitz studierte die Zusammenfassung der Akten der alten Mordserie, und Ludovic Mistral döste auf dem Rücksitz. Er wachte erst auf, als der Wagen eine Dreiviertelstunde später auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes hielt.
Die Tür zu Tarnos’ Büro stand offen. Er und die Polizisten aus Pontoise warteten schon auf die Pariser Kriminalbeamten. Nach den üblichen Bemerkungen über die Hitze kam der Untersuchungsrichter schnell zur Sache. Zunächst ging er auf die Übereinstimmungen zwischen den Morden in Paris und denen in Pontoise ein. Eine Stunde später lagen zwei Blätter Papier auf seinem Schreibtisch, von denen eines mit Für und das andere mit Wider überschrieben war.
Die Polizisten und die Kriminalbeamten hatten es ebenso gemacht und sich bestimmte Dinge notiert. Diese Methode habe ich auch schon ausprobiert , dachte Mistral. Es dürfte interessant werden, zu sehen, was hier dabei herauskommt . Seine Müdigkeit drohte ihn zu überwältigen. Er hoffte, dass der Richter bald einen Kaffee anbieten würde.
»Die beiden Seiten halten sich die Waage«, verkündete Tarnos kurz darauf. »Auf der einen Seite haben wir die absolut gleiche Vorgehensweise, die Spiegelscherben im Gesicht und ein darüber gebreitetes Tuch, die auf dem Rücken gefesselten Hände, den Diebstahl von Handys und Computern und die bei den Leichen gefundenen mysteriösen Texte. Dagegen spricht, dass es nicht die gleiche Art von Fesseln ist, dass die Opfer unterschiedlicher Herkunft sind und die Tatorte sich nicht gleichen – in unseren Fall waren es Häuser, in Paris Wohnungen –, dass die Zitate nicht vom gleichen Autor stammten und dass keine DNA nachgewiesen werden konnte.«
»Wir haben vorhin schon darauf hingewiesen, dass wir der Meinung sind, einen Nachahmungstäter vor uns zu haben«, meldete sich ein Kommissar aus Pontoise zu Wort.
»Was sagen die Kriminalisten dazu?«
Mistral zuckte die Schultern. Im Gegensatz zu sonst sprach er eher langsam und hatte sich an der Für-und-Wider-Diskussion nicht beteiligt.
»Auf keinen Fall können wir Brial die Pariser Morde zur Last legen, aber was ist mit den drei ersten Fällen? War Brial wirklich der Täter? Das ist meiner Ansicht nach die Kernfrage. Vielleicht hat er nur den Anstoß dazu gegeben. Es ist auch durchaus möglich, dass ein und derselbe Täter sechsmal gemordet hat. Natürlich stellt sich die Frage, warum der Verdächtige nichts Vernünftiges zu seinem Alibi sagt.«
»Die hier anwesenden Polizisten sind offenbar nicht Ihrer Ansicht«, wandte der Richter ein.
Die Angesprochenen nickten.
»Es gibt da noch eine interessante Sache«, fuhr Mistral fort. »In Ihren Berichten steht, dass die Fesseln in zwei Fällen von einem Linkshänder, im dritten Fall von einem Rechtshänder verknotet wurden. Ist Brial ein Beidhänder?«
Bei den drei Polizisten machte sich eine gewisse Verlegenheit breit.
»Brial ist Rechtshänder«, erklärte einer von ihnen. »Natürlich haben wir uns auch schon unsere Gedanken gemacht. Bei allen drei Opfern finden sich die gleichen Fesseln, und zwar ohne DNA-Spuren, weil der Täter vermutlich mit Handschuhen gearbeitet hat. Ehe er den Knoten festzurrte, hat er in allen drei Fällen die Nylonschnur viermal um die Handgelenke der Opfer geschlungen. Erst beim Knoten ändert sich die Richtung der Kordel. Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass der Mörder allein war und offenbar in zwei Fällen die Stellung gewechselt hat, ehe er die Hände der Frauen fesselte.«
»Ja, das ist durchaus möglich«, nickte Mistral. »Aber ich habe noch eine andere Frage. Haben Sie festgestellt, ob es in den Häusern der Opfer oder in Brials eigener Wohnung verhängte Spiegel gab?«
»Verhängte Spiegel?«, fragte der Richter verblüfft.
Mistral erzählte, was er im Fall Colomar entdeckt hatte, und berichtete von seiner Theorie, dass der Mörder möglicherweise schizophren war und sich daher scheute, Räume zu betreten, in denen er mit seinem Spiegelbild konfrontiert werden könnte. Dabei unterstrich er die Ähnlichkeit der Bewegungsabläufe des Täters bei den Opfern von Pontoise und denen von Paris.
Der Richter und die Polizisten starrten ihn
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