Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
vergangenen Nacht abgegeben haben, vermutlich eine Sache von wenigen Minuten. Bis fünf Uhr morgens hatte Mistral wach gelegen und sich dann mit zwei Stunden Schlaf begnügen müssen. Er fühlte sich wie in einem wattigen Nebel und musste sich anstrengen, um einigermaßen vernünftig mit Clara zu reden, die ihn zwar besorgt ansah, aber nichts sagte. In der Nacht hatte er sich bemüht, seine Schlaflosigkeit in Worte zu fassen, doch es war ihm nicht gelungen. Es war, als ob die Gründe sich verwischten und verschwammen. Zurück blieb nur die Schlaflosigkeit.
Im Handschuhfach lag die unberührte Schachtel mit den Schlaftabletten. Mistral hatte sie bewusst vergessen. Seit nahezu vierzig Tagen schlief er nicht mehr richtig und ging davon aus, dass sein Körper irgendwann auf den Schlafmangel reagieren würde; dann könnte er endlich wieder einmal eine Nacht richtig durchschlafen. Jetzt jedoch fühlte er sich unausgeschlafen, konnte kaum klar denken, war angespannt, nervös und reizbar.
Er kam gut voran, umrundete die Place de l’Étoile, bog in die Champs-Elysées ein und hielt vor einem Drugstore. Ohne Eile genehmigte er sich ein Frühstück und überflog den Parisien , als hätte er ein freies Wochenende. Dann rief er Balmes an, teilte ihm mit, dass er erst gegen Mittag ins Büro käme, und telefonierte anschließend mit Calderone, um eventuelle Neuigkeiten über die Fälle zu erfahren.
»Sind Sie okay?«
»Absolut okay, Vincent. Ich brauche heute Morgen einfach ein bisschen Freiraum zum Nachdenken. Mein Handy ist eingeschaltet, ich bin also jederzeit erreichbar.«
Nachdem er den Drugstore verlassen hatte, fuhr Mistral gemächlich in Richtung Seine-Kais. Vor dort aus ließ er sich treiben. Weit geöffnete Scheiben ersetzten die Klimaanlage. Zwar würde der Tag sicher sehr warm werden, doch die extreme Hitze schien nachzulassen.
Eine Tischbreite trennte Jean-Pierre Brial von dem Gefängnisgeistlichen, der ihm gegenübersaß. Brial lümmelte sich auf seinen Stuhl, hatte die Arme über seinem dicken Bauch gekreuzt und musterte erwartungsvoll den Kirchenmann. Der Priester saß mit flach auf den Tisch gelegten Händen sehr gerade. Neugierig betrachtete er den korpulenten Gefangenen.
»Sie hatten um meinen Besuch gebeten? Soweit ich mich erinnere, ist es das erste Mal.«
Brial kratzte sich mit seiner schmutzigen, fetten Hand Gesicht und Hals und wischte sich die verschwitzten Finger an der Hose ab.
»Das ist richtig. Aber zuvor habe ich eine Frage. Behalten Sie alles, was man Ihnen sagt, für sich?«
»Wenn es sich um eine Beichte handelt auf jeden Fall.«
»Und wenn nicht?«
»Normalerweise auch dann. In einem solchen Fall ziehe ich es allerdings vor, nicht von den Dingen zu reden, die Sie hergebracht haben, sondern möchte Ihnen lieber helfen, sich weiterzuentwickeln und ...«
»Das kommt hier nicht in die Tüte. Man beschuldigt mich einer Tat, die ich nicht begangen habe. Genau genommen geht es um eine Mordserie, um drei Morde, die ...«
Der Geistliche hob abwehrend die Hand.
»Ich habe Ihnen eben meine Vorbehalte mitgeteilt.«
»Ja, ja, ich weiß. Ich wollte Ihnen gerade erzählen, dass man bei den Toten Zitate von Seneca gefunden hat. Der Untersuchungsrichter hat es mir mitgeteilt. Also – ich wollte wissen, ob Sie mir etwas über Seneca sagen können. Wer ist dieser Mann? Was hat er geschrieben? Das Nötigste eben.«
Nachdenklich und ein wenig verwundert betrachtete der Priester den nachlässig gekleideten Gefangenen, der mit seinen schmutzigen Händen, der fleckigen Kleidung und seinem begrenzten Wortschatz so gar nichts von einem Intellektuellen hatte.
»Um über Seneca zu sprechen, brauchen Sie aber keinen Geistlichen.«
»Ach ja? Und wer kann mir in diesem Loch hier etwas über ihn sagen?«
»Immerhin gibt es hier eine Bibliothek, und ...«
Als der Mann nicht reagierte, musste der Geistliche unwillkürlich lächeln. Er dachte daran, wie interessant es doch immer war, mit den Gefangenen zu diskutieren und sie vielleicht zu einem besseren Leben zu bekehren.
»Nun gut, ich werde Ihnen ein wenig über Seneca erzählen«, fuhr der Priester leicht amüsiert fort, als er sah, wie wenig begeistert Brial auf das Wort Bibliothek reagierte.
Der Gefängnisgeistliche aß, wie jeden Freitag, um Punkt 13.00 Uhr mit dem Personal der Gefängnisleitung zu Mittag. Man plauderte über alltägliche Dinge. Schließlich wurden Nachtisch und Kaffee serviert.
»Ich hatte heute eine verblüffende Diskussion mit
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