Die dunkle Seite des Weiß
breit. »Da Sie für die Akademie arbeiten, gehe ich davon aus, dass Sie eine besondere Begabung haben. Wären Sie so freundlich, mir zu verraten, in welchem Gebiet Sie exzellent sind? Nur damit ich weiß, für welche Tätigkeiten Sie eventuell unterstützend zur Verfügung stehen.«
Er lächelte schmal. »Sicher. Alles zu seiner Zeit.«
Ich kreuzte herausfordernd die Arme vor der Brust. »Richtig. Und diese Zeit ist jetzt.«
Einen Moment starrten wir uns an. Ernesto Sanchez’ Gesicht blieb unbewegt, aber ein Glitzern trat in seine dunklen Augen. Schließlich zuckte er gleichmütig mit den Schultern. »Kontakte. Meine Stärke sind Kontakte zu Menschen, Organisationen und allem, was dazwischen liegt. Ich bin so etwas wie ein unabhängiger Berater. Für die Akademie und alle, die mich sonst brauchen. Und das sind eine Menge Menschen.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Dann brach ich in Gelächter aus. Es war auch einfach zu komisch. In der Akademie wimmelte es von Menschen mit allen möglichen Sonderbegabungen, eine faszinierender als die andere. Und dann sagte jemand einfach nur: Kontakte.
Er schien meine Reaktion erwartet zu haben, denn er lächelte freundlich. »Nicht jede Fähigkeit ist spektakulär. Dafür im Alltag umso wertvoller.« Damit wandte er sich um und setzte seinen Weg fort.
Für einen winzigen Moment begegnete ich Mirellas Blick und mein Herz krampfte sich zusammen. Was machte dieser Typ an Mirellas Seite? Wieso hatte sie sich eingelassen auf jemanden, der so aalglatt war, dass er sich kaum greifen ließ?
Langsam folgte ich den Beiden, während in mir eine völlig neue Mischung aus Wut, Hilflosigkeit und Misstrauen aufstieg. Zu sehen, wie dieser Typ Mirella betatschte, war widerlich. Und mir auszumalen, was geschah, wenn die Beiden alleine waren, war weit jenseits der Grenze des Erträglichen. Zur Hölle mit Ernesto Sanchez. Wo immer die auch sein mochte.
*
»Hier hat sie also gelegen?« Ich ließ den Blick durch den Raum wandern.
Mirella nickte. »Ja, hier hat der Wachmann sie gefunden, als er früh am Morgen zu seiner Schicht kam. Sie trug das weiße Kleid, den Hut, die Schuhe … und in den Händen hielt sie das Tagebuch. Wenn man ihm glauben kann, sah sie aus, als wäre sie eben erst eingeschlafen.«
Wir standen zu dritt um eine verrostete Zinkbadewanne mit Löwenfüßen herum, die mitten im früheren Speisesaal des Sanatoriums stand und dort mindestens so deplatziert wirkte wie Ernesto Sanchez an Mirellas Seite.
Einen Moment sagte keiner von uns ein Wort. Dann räusperte ich mich. »Also, fassen wir zusammen. Eine junge Frau in altertümlichen Kleidern liegt tot in einer Badewanne. Irgendwo am Rande des Nichts. Des verrotteten Nichts, um genauer zu sein. Erklärungen?«
Ernesto Sanchez lächelte milde. »Dafür sind Sie doch da, Herr Kollege. Oder irre ich mich?«
Ich spürte ein leises Brodeln in meiner Magengegend, ein Aufkeimen von Groll und unbändiger Lust, diesem unerträglichen Schnösel eins auszuwischen. Doch ich lächelte. »Mitnichten nur dafür. Was mich aber generell interessieren würde – haben Sie nichts Wichtigeres zu tun, als in meine Arbeit hineinzupfuschen? Sie sind Berater der Inneren Abteilung. Das ist schön und gut, befähigt Sie aber in keiner Weise zur Teilnahme an Ermittlungen in einem potentiellen Mordfall.«
Ernesto Sanchez’ Blick traf mich wie ein Dolchstoß. Ein eisiger Schauer rann mir über den Rücken, als ich die Härte wahrnahm, die sich in seinen Augen spiegelte. »Die Akademie will eine schnelle und lückenlose Aufklärung dieses Falles«, sagte er ruhig. »Die dazu nötigen Kontakte sollen so rasch wie möglich gefunden, genutzt und abgewickelt werden. Und genau dafür bin ich da. Ich muss nah dran sein, um exakt zu wissen, was nach außen kommuniziert werden soll.«
Gefunden, genutzt und abgewickelt … Wenn das auch seine Art war, Beziehungen zu führen, dann sah ich schwarz für Mirellas Seelenheil.
»Was nach außen kommuniziert werden soll? Das ist einfach«, entgegnete ich. »Wie immer in unseren Fällen – nichts. Es wird nichts kommuniziert. Weil niemanden etwas angeht, was wir tun. Höchstens die Polizei, und auch die nur, wenn wir das für richtig halten.«
Die Akademie hatte ein gutes Verhältnis zu staatlichen Institutionen, war selbst aber stets unabhängig geblieben. Ein entscheidender Schachzug, der es ermöglicht hatte, in den letzten 150 Jahren seit der Akademiegründung die verschiedensten politischen Systeme
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