Die dunkle Seite des Weiß
jemand. Eine blasse, stumme Gestalt, die ich unter Tausenden wiedererkannt hätte. Es war die junge Frau aus der Pathologie. Sie blickte durch mich hindurch, so als wäre ich gar nicht da, das Gesicht hell und die Lippen von einem blassen Violett, das nichts Gutes erahnen ließ. Kein Zweifel, sie war es.
Ich keuchte leise auf, als mich ein kalter Luftzug so unvermutet streifte, als hätte mir jemand in den Nacken gehaucht. Das Atmen … wurde schwerer … der Schwindel verstärkte sich, ließ mich taumeln. Die feinen Alveolen in meiner Lunge schienen ihren Dienst zu versagen, es war eine Starrheit in meinem Brustkorb, als wäre er erfroren, zu Eis geworden innerhalb von Sekundenbruchteilen. Zu wenig Luft! Meine Lunge brannte und das Blut rauschte mir in den Ohren. Atmen. Atmen. Du musst atmen!
Die Grenzen verschwammen und es fühlte sich an, als würde ich durch einen unsichtbaren Schleier treten. In diesem Augenblick legte die junge Frau neben mir den Kopf schräg und ein erstaunter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Sie blickte mir direkt in die Augen! Sah sie mich? Hieß das, ich –
»Jakob!« In dem Moment, als ich taumelnd zu Boden fiel, hörte ich den Schrei. Und es war, als würde ich fortgerissen von diesem Ort und viel zu schnell vom Grunde eines trüben Sees wieder auftauchen. Keuchend schnappte ich nach Luft. Luft! Frische, betörend süße Luft, die meine Lungen füllte und meinen Körper durchströmte. Atmen …
Als ich die Augen öffnete, war die junge Frau verschwunden. Stattdessen schob sich Mirellas Gesicht in mein Blickfeld. Und direkt neben ihr das von Ernesto Sanchez. Egal. Ich atmete. Alles andere war zweitrangig.
»Was ist passiert?«, sagte Mirella, während sie mir half, mich aufzusetzen. »Was hast du gesehen?«
Ich brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte. Noch immer war meine Brust wie zugeschnürt. »Nichts«, presste ich schließlich hervor. Ein heftiger Hustenreiz schüttelte mich. »Ich bin wohl etwas … aus der Übung.«
Mirellas Blick zeigte deutlich, dass sie mir kein Wort glaubte. Doch ich schwieg. Ich würde später mit ihr reden, wenn überhaupt. In Ernesto Sanchez’ Gegenwart würde nichts von meinem Ausflug in die Vergangenheit über meine Lippen dringen. Keine Sekunde davon.
*
»Also nochmal. Was hast du gesehen?«
Ich hob überrascht den Kopf. Mirella war mir in einen der alten Baderäume der Beelitzer Heilstätten gefolgt und stand nun schräg hinter mir. Ich betrachtete sie durch das fast blinde Glas des Spiegels und lächelte matt.
»Wo ist der Yuppie?«
»Draußen. Telefoniert. Besser gesagt, er versucht es. Hier gibt's ja anscheinend wirklich kein Netz.«
Ich stieß ein heiseres Schnauben aus und stützte mich auf dem gesprungenen Emaillewaschbecken ab. Noch immer traute ich meinen weichen Knien nicht, und der Schwindel in meinem Kopf war einem altbekannten dumpfen Pochen gewichen.
»Es gibt leider auch kein Wasser«, sagte ich und deutete mit einem Nicken auf den rostigen Hahn. »Ist aber wohl auch besser so, die Leitungen sind total verrottet. Wahrscheinlich fängt man sich sonstwas ein, wenn man hier nur an Wasser denkt.«
Ich hob den Blick und musterte Mirella. Es war schwer, sie in solcher Distanz von mir zu wissen. Und noch schwerer, ihr nah zu sein. Ein Dilemma, das nicht gut ausgehen konnte, egal, wie man es drehte und wendete. Unsere Zusammenarbeit war quälend. Aber das hatte ich gewusst, von Anfang an. Und mich dennoch darauf eingelassen.
»Und? Nimmst du die Medikamente noch?« Die Frage glitt mir über die Lippen, ohne dass ich es hätte verhindern können.
Ein Ruck ging durch Mirella. Meine Worte hatten sie aus dem Nichts getroffen und einen Moment fürchtete ich, sie würde sich einfach umdrehen und gehen. Doch sie atmete nur einmal tief durch. »Ja, das tue ich. Und bevor du weiterfragst, es geht mir hervorragend. Wirklich wunderbar. Alles im Griff.«
»Gut.« Ich versuchte ein Lächeln, auch wenn es schwerfiel. Es war lange her, dass wir darüber geredet hatten. Dass wir überhaupt geredet hatten. Als wir uns kennenlernten, damals im Lehrprogramm des Paranormal Arts Institute, war Mirella eine Mischung aus eiskalter Göttin und brodelnder Glut gewesen. Und das meine ich nicht nur körperlich, sondern vor allem mental. Ihre Fähigkeit, sich von allem abzukoppeln und sich auf diese Weise unabhängig zu machen von Emotionen und subjektiven Entscheidungen, stand auf wackligen Füßen. Ich bin bis heute nicht sicher, ob es eine
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