Die dunkle Seite des Weiß
schluckte schwer. Ein Verlierer also? War es das, was sie in mir sah? Und Ernesto Sanchez, was war der dann?
»Und du hast nie verstanden, dass genau darin die ganze Kraft liegt. Und der ganze Zauber. Wenn man den Mut hat, sich einzulassen.«
Mirella musterte mich stumm und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass sich etwas in ihrer Aura veränderte. Als würde sich ein Zugang öffnen, der mir lange verschlossen geblieben war. Doch nach wenigen Sekunden war es vorüber.
Sie verzog spöttisch die Mundwinkel. »Ich weiß nicht, warum wir überhaupt darüber reden. Es ist so lange her. Konzentrieren wir uns auf die Arbeit, ja? Nur auf die Arbeit.«
Sie drehte sich um und ging mit festen Schritten zur Tür. Ich sah ihr nach, wobei ich es nicht lassen konnte, meinen Blick an ihrem Körper hinunter wandern zu lassen. Sie hatte recht. Es war verflucht lange her. Viel zu lange …
Ich räusperte mich. »Das mit Ernesto ist dann also auch eine chemische Fehlregulation?«
Ich sah, wie Mirellas Körper sich anspannte. Sie drehte sich zu mir um. In ihrem Blick lag ein explosives Funkeln. Bis hierhin und nicht weiter, sagte es. Doch ich bin gut darin, Mirellas Warnungen zu ignorieren. Besonders, wenn ich etwas wissen will. Genau wissen will. Ich legte den Kopf schräg. »Oder ist es der Sex? Mal ehrlich, mir kannst du es doch sagen. Sind Kubaner tatsächlich so –«
Mirella kam gefährlich langsam zu mir zurück und blieb dicht vor mir stehen. Dann ging alles ganz schnell. Sie holte aus und im nächsten Moment spürte ich ein schneidendes Brennen auf meinem Gesicht. Mirella wirbelte herum und rauschte mit hoch erhobenem Kopf davon. Ich sah ihr nach und rieb mir die Wange. Der Schlag hatte gesessen. Doch ich war nicht wütend. Stattdessen breitete sich ein Lächeln in mir aus.
»– gut im Bett?«, vollendete ich meinen Satz. »Nein, das sind sie nicht. Ganz sicher nicht.«
Gut zu wissen.
Kapitel 4
23. September 1911
Die Nacht ist wie eine Vorahnung des Todes. Ich höre das rasselnde Atmen der anderen. Das Husten. Meinen Herzschlag. Ich weiß, dass Viktor nächste Woche herkommen wird. Er hat es doch versprochen. Und ich zähle die Tage, die Stunden, die Minuten, Sekunden, weil mir nichts Anderes bleibt. Ich warte. Es ist nichts als Warten hier. Als wäre das ganze Sanatorium nur dafür gemacht. Für Wartende. Wie ein prachtvoller Bahnhof. Nur dass niemals mehr ein Zug abfährt.
Ich ließ das in brüchiges Leder gebundene Buch sinken und starrte für einen Moment reglos an die weiße Wand meines Wohnzimmers. Die feine Kurrentschrift, mit blauer Tinte auf die hauchdünnen Seiten geschrieben, war an manchen Stellen kaum noch zu entziffern. Und trotzdem ging von den Aufzeichnungen im Tagebuch des Mädchens eine Intensität aus, als hätte sie die Zeilen erst gestern verfasst.
Vorsichtig blätterte ich weiter. Die meisten Einträge handelten von der unerträglichen Langeweile im Sanatorium, von ewig gleichen Liegekuren der Tuberkulosekranken, vom faden Essen. Von den flüchtigen Bekanntschaften, die der Tod wieder zerriss. Die Schreiberin dieses Tagebuchs war die älteste 17jährige, die mir jemals begegnet war. Und jede ihrer Eintragungen ein schonungsloser Bericht des Erlebten.
Ich blätterte vor zur ersten Seite. Ein Namenseintrag, umgeben vom verblichenen Siebdruck gerankter Blüten. Clara von Rieckhofen.
Das also war ihr Name. Clara. Und der erste Eintrag vom 16. August. Es waren nur zwei Sätze, flüchtig hingekritzelt.
Ankunft Beelitz Heilstätten mit dem Morgenzug. Der Koffer schwerer, als gedacht.
Ich seufzte und rieb mir die müden Augen. Draußen vor dem Fenster hatte sich die abendliche Dämmerung wie ein blausamtenes Tuch über die Stadt gelegt. Der diffuse Spannungskopfschmerz des Tages hatte sich verzogen, doch in meinem Kopf blieben die Nebel.
Wie konnte eine Frau, die im Jahr 1911 als Patientin der Beelitzer Heilstätten ein Tagebuch geführt hatte, heute als frische Leiche wieder auftauchen? Es gab dafür keine logische Erklärung – zumindest keine, die Hades uns hätte liefern können. Sie war laut seiner Aussage weder einbalsamiert worden, noch lagen Spuren einer Erfrierung vor, als wenn sie in Eis gelegen hätte. Und nach einer Moorleiche sah sie ebenfalls nicht aus. Ich seufzte erneut. Nein, die junge Frau war entweder weit über 100 Jahre alt geworden, ohne dabei das Aussehen einer 17jährigen zu verlieren – oder es fehlte uns ein Stück im Puzzle.
Behutsam klappte ich das
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