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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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Buch zu und schloss für einen Moment die Augen. Eine der unangenehmen Seiten einer hochsensiblen Wahrnehmung ist, dass man viel schneller ermüdet als andere. Ich gebe es nicht gerne zu und habe lange gebraucht, um es für mich zu akzeptieren. Aber ich muss darauf achten, genug Ruhe zu haben. Abgeschiedenheit. Stille. Alleinsein. Das, wovor viele andere Menschen sich fürchten, ist für mich eine absolute Bedingung, um überhaupt zu existieren. Ich würde durchdrehen, wenn ich in dem Rhythmus leben müsste, der gemeinhin als »normal« gilt. Aber was ist schon normal …
    Ich öffnete die Augen wieder. Meine Gedanken kreisten unablässig um Clara. Was, wenn doch alles eine falsche Fährte war? Wenn jemand die Leiche absichtlich altmodisch gekleidet und ihr das Tagebuch in die Hand gedrückt hatte? Was, wenn das Tagebuch eine geschickte Fälschung war? Vielleicht war es doch kein Fall für unsere Abteilung, sondern wir hatten es mit einem abgebrühten Täter zu tun, der seine Tat kaschieren wollte? Für einen Augenblick spürte ich eine tiefe Erleichterung bei diesem Gedanken. Diese Lösung würde mir quälende gemeinsame Ermittlungen mit Mirella ersparen. Die alten Vorwürfe, die unhaltbar waren und sich dennoch nicht aus den Köpfen verscheuchen ließen. Und diese lächerliche und demütigende Beobachtung durch Ernesto Sanchez.
    Welch himmlische Aussichten … Es wäre für uns alle am einfachsten. Doch noch während ich darüber nachdachte, wusste ich, dass es so leicht nicht werden würde. Ich hatte Clara von Rieckhofen gesehen, heute, in diesem alten Speisesaal. Ich konnte wahrnehmen, was sich an Orten abgespielt hatte, wenn ich mich wirklich darauf einließ. Und ich hatte sie gesehen. Eindeutig erkannt. Sie war dagewesen, eine Patientin des Sanatoriums. Und das Tagebuch Zeugnis einer längst vergangenen Epoche.
    Ein bohrender Zweifel begann an mir zu nagen. Was, wenn ich mir das alles nur eingebildet hatte? Ich war fehlbar. Und ich hatte meine Fähigkeiten lange nicht genutzt … konnte ich mich auf die Wahrnehmungen wirklich verlassen?
    Ich schloss die Augen, und sofort war das Bild der jungen Frau wieder da, in einer Deutlichkeit, dass es mir fast wieder den Atem nahm. Es war kein Trugbild gewesen. Sie hatte neben mir gestanden, keinen Meter von mir entfernt, in diesem alten Speisesaal. Ich hatte ihre kühle Anwesenheit gespürt. Und die Symptome einer heimtückischen Krankheit, die mir die Luft geraubt hatte, als wäre ich selbst davon betroffen gewesen. Claras schwere Tuberkulose. In einem Stadium, in dem der Tod schon längst auf leisen Sohlen durch die Gänge schlich.
    Der Druck auf meinem Brustkorb nahm zu. Hastig schlug ich die Augen auf.
    Nein. Ich zweifelte nicht an meinen Wahrnehmungen. Clara von Rieckhofen war Patientin der Beelitzer Heilstätten gewesen. Sie war durch diese Räume gegangen, hatte dort gelebt und war dort gestorben. Die Frage war nur, wann.
    Ich schwang mich vom Sofa hoch. Frische Luft, das war es, was ich jetzt brauchte. Sauerstoff würde mir helfen, meine Gedanken zu ordnen. Ich ging zur Tür und stieg die wenigen Stufen im Treppenhaus hinauf bis zur Dachluke, stieß sie auf und kletterte auf das flache Dach. Hunderte Male hatte ich das in den vergangenen Jahren getan.
    Die Aprilnacht war kühl und der Geruch nach Regen mischte sich mit der leisen Vorahnung von Fliederblüten und aufbrechender Erde. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich liebte die Nächte auf diesem Kreuzberger Dach, wo man dem Himmel näher zu sein schien als der Schwere der Erde. Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick über Berlin. Über diese Stadt, die niemals wirklich schlief, die immer mit einem leisen Bereitschaftsrauschen im Hintergrund zu warten schien. Ich wandte den Blick nach links und sah in der Ferne die schlanke Silhouette des Fernsehturms in die Nacht aufragen, die Kugel an der Spitze ein glitzernd erleuchtetes Raumschiff, das merkwürdig friedlich über die Stadt wachte. Ganz langsam fiel die Anspannung des Tages von mir ab und erst jetzt merkte ich, wie müde ich wirklich war. Eine bleierne Schwere lag auf meinen Gliedern.
    Zeit, im Schlaf die Gedanken zu ordnen. Mein Unterbewusstsein würde wissen, was zu tun war. Es hatte es immer gewusst. Früher.
    *
    Ich hatte das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, als mich die Tatort-Titelmelodie aus dem Schlaf riss. Emilie Wimschneider, die 90jährige schwerhörige Nachbarin aus der Wohnung unter mir, konnte wie so

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