Die dunkle Seite des Weiß
kann, wo die Leiche ursprünglich lag. Also los, beweg dich.«
Als Manuel zögerte, verengten sich Mirellas Augen zu schmalen Schlitzen. »Ich erinnere daran, dass wir deine Fingerabdrücke auf dem Tagebuch gefunden haben. Ich lasse dich hochgehen, ohne mit der Wimper zu zucken, das kannst du mir glauben«, sagte sie.
Manuel fluchte leise, doch er schien zu begreifen, dass es besser war, mit uns zu kooperieren. Auch wenn er für einen Moment aussah, als würde er sich lieber inhaftieren lassen, als noch einmal in die Heilstätten zurückzukehren.
»Scheiß Erpressung«, murmelte er, griff mit zitternden Händen nach seinem Mantel und folgte uns zur Tür.
*
»Hier ist der Eingang.« Manuel deutete auf eine zerborstene Tür, hinter der brüchige Stufen in einen dunklen Keller hinab führten. Ich zückte eine Taschenlampe und leuchtete hinunter. Der Geruch nach Moder und Feuchtigkeit schlug uns entgegen, nach Herbst und verfallenem Gestein.
»Na dann wollen wir mal.« Ich schob die Tür auf, die herzzerreißend in den Angeln quietschte, und begann, vorsichtig die Treppe hinunterzusteigen. Die Stufen waren so verfallen, dass ich mehrere Male innehielt, um sicherzugehen, dass sie hielten. Manuel folgte mir zögernd und auch nur, weil ihm unter Mirellas unerbittlichem Blick keine andere Wahl blieb. Sie hielt sich dicht hinter uns.
Am Ende der Treppe blieb ich stehen und leuchtete in die Dunkelheit. Der Keller bestand aus unzähligen schmalen Gängen, deren Wände dunkel vor Feuchtigkeit waren. Die Decken waren so niedrig, dass man mit dem Kopf anzustoßen drohte. Beklemmend.
»Nicht gerade eine Kathedrale«, sagte ich und drehte mich zu Manuel um. »Wo habt ihr das Mädchen gefunden?«
Er deutete in einen Gang, der nach links führte und sich schnell verzweigte. »Da entlang«, sagte er. Das nervöse Beben in seiner Stimme war deutlich wahrzunehmen. »Es ist nicht weit, der Weg gabelt sich und führt dann zu einem Raum. Und da lag sie. Aber Vorsicht, hier sind überall Löcher im Boden.«
Tatsächlich. Alle paar Meter ragte wie aus dem Nichts ein Schacht in die Tiefe. Ein Mal ein Meter unendliche Schwärze. Wer auch immer diese Schächte ausgehoben hatte, war entweder verrückt oder wollte nicht, dass irgendjemand hier unten besonders weit kam. Wahrscheinlich beides. Ich spürte einen Schauer über meinen Rücken laufen. Es war ein Wunder, dass Manuel und seine Freunde aus diesem Labyrinth aus Gängen und schwarzen Löchern heil wieder herausgekommen waren.
»Und hier seid ihr im Dunkeln langmarschiert?«, sagte Mirella etwas zu laut. Ihre Stimme hallte von den feuchten Wänden wider, wurde unzählige Male zurückgeworfen und verklang schließlich im Nichts.
Manuel zuckte neben mir zusammen. »Ja, klar«, sagte er nervös. »Mit Taschenlampe. Ich habe immer eine dabei. Gerade bei den Dark Moon Parties geht‘s nicht ohne. Und naja, außerdem waren wir eben …«
»Vergiss es«, antwortete Mirella schlicht.
Wir gingen schweigend weiter, umrundeten vorsichtig weitere Schächte, kreuzten unzählige Gänge. Dann machte der Weg einen Bogen – und ich merkte, dass meine Taschenlampe nicht mehr die einzige Lichtquelle war. Abrupt blieb ich stehen.
»Stopp!« Ich knipste die Taschenlampe aus.
Mirella schob sich an Manuel vorbei neben mich. »Wie es aussieht, sind wir nicht alleine …«
Manuel scharrte hinter uns nervös mit den Füßen. »Das sind die Kerzen. Glaube ich.«
Ich runzelte die Stirn. Manuel hatte von Kerzen gesprochen, die brannten, als er Clara in dem Raum gefunden hatte. Aber das war mehrere Tage her. »Die Kerzen brennen noch?«
Ich begegnete Mirellas Blick. Sie schien genauso an Manuels Worten zu zweifeln, wie ich es tat.
Vorsichtig tasteten wir uns voran, bis wir schließlich den Raum erreichten. Manuel hatte recht. Das Zimmer vor uns war menschenleer, aber von unzähligen Kerzen erleuchtet. Ihre Flammen standen so still, als würden sie zu einem Gemälde gehören. Und doch roch es unverkennbar nach Wachs und Ruß. Irgendetwas in mir ging mit der Atmosphäre in diesem Raum in Resonanz. Es war, als würde man sich in einem Vakuum bewegen.
In der Mitte des Raumes befand sich ein breites Bett, das von Blumen umgeben war.
Manuel deutete mit einem Nicken darauf. »Dort hat sie gelegen.«
»Lauschig«, sagte Mirella.
Ihr Blick wanderte über die Wände des Raumes. Ich schluckte schwer. Anatomische Präparate. Unzählige von ihnen standen auf Regalen, in Vitrinen, selbst auf dem Boden. Und es
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