Die dunkle Seite des Weiß
waren ausschließlich Lungenflügel. Im goldenen Licht der Kerzen schimmerten sie fast durchsichtig und gaben den Blick frei auf das Geäst feinster Kapillargefäße, das sich filigran durch das fragile Gewebe zog. Es war vollkommen still in diesem Raum, und fast erschien es mir, als würden die Präparate ein unmerkliches Atmen von sich geben.
Manuel schnaubte heiser und machte auf dem Absatz kehrt. »So, das war‘s. Ich muss hier raus.«
»Sobald wir das Okay dazu geben.« Mirella packte ihn am Ärmel.
Manuels Blick huschte zwischen uns hin und her. Ich konnte sehen, wie seine Lippen zitterten. »Ich habe Ihnen alles gezeigt, was ich weiß. Mehr ist hier nicht. Wirklich nicht.« Er schluckte schwer. »Darf ich jetzt bitte gehen?«
Einen Augenblick rührte sich niemand von uns. Dann ließ Mirella ihn los. »Ja, hau ab. Aber halt dich zu unserer Verfügung, falls wir noch Fragen haben. Vorerst wird die Polizei nichts gegen dich unternehmen, denn noch weiß keiner außer uns, dass deine Fingerabdrücke auf dem Tagebuch sind. Ich bin allerdings nicht sicher, wie lange wir diesen Zustand aufrechterhalten können. Es macht übrigens auch keinen Sinn zu türmen. Wir finden dich. Die Akademie findet jeden. Verstanden?«
Manuel nickte gequält. »Verstanden.«
Mirella griff ohne Umschweife in seine Manteltasche und zog die Taschenlampe hervor, von der er gesprochen hatte. »Hier. Ich würde sie benutzen. Damit du nicht vom Erdboden verschluckt wirst.«
Über Manuels Gesicht zuckte der Hauch eines Lächelns und für einen Moment hatte ich das Gefühl, er würde noch etwas sagen wollen. Doch dann drehte er sich um und tauchte ohne ein weiteres Wort in die Dunkelheit.
Als seine Schritte verhallt waren, blickte ich Mirella an. »Er war es nicht.«
»Wie kannst du dir so sicher sein? Es spricht alles gegen ihn.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ein … Gefühl.«
Mirella schnaubte leise. »Dann hoffe ich, dein Gefühl hilft uns dabei, den richtigen Mörder zu finden, sonst sieht‘s schlecht aus für den kleinen Gruftie.«
Ja, dachte ich und blickte in die Dunkelheit, dorthin, wo Manuels Gestalt sich verloren hatte. »Du glaubst doch auch nicht, dass er es war.«
»Nein, aber ich frage mich, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, den Fall einfach der Polizei zu überlassen, anstatt dich zurückzuholen. Jeder einigermaßen geschulte Ermittler wäre wahrscheinlich schon viel weiter.«
Ich runzelte die Stirn. »Man möge mir verzeihen, dass ich ein wenig Zeit brauche, um mich in der anheimelnden Atmosphäre der Akademie zu akklimatisieren.«
Mirella seufzte leise und machte eine wegwischende Handbewegung. »Entschuldige. Ich steh ein wenig … unter Strom. Nein, ich glaube auch nicht, dass Manuel es war. Schon allein, weil dieser Raum hier existiert. Ein Teenager auf Drogen verliert vielleicht im Affekt die Kontrolle, aber das hier? Sieh dich um, das ist gruselig. Irgendjemand hat diesen Keller eingerichtet.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Manuel damit etwas zu tun hat. Aber wir brauchen Beweise. Wie üblich. Und dein Gefühl zählt nicht vor Gericht, das weißt du.«
Sie blickte sich im Gewölbe um. »Also, was haben wir? Eine aufgebahrte junge Frau, Blumen, Kerzen und einen Haufen Lungenflügel.«
Ich ging zu einem der Präparate hinüber und strich vorsichtig mit dem Zeigefinger an den feinen Verästelungen entlang. »Beeindruckend«, sagte ich leise. »Es muss eine unglaubliche Mühe gemacht haben, all diese Lungen zu präparieren. Das war jemand, der sich damit auskannte.«
»Ja. Ein Irrer.« Mirella schüttelte den Kopf. »Wer hat das alles hier hingestellt? Ich meine, wir sind im verdammten Keller einer baufälligen Geisterklinik.« Sie zupfte eine weiße Lilie vom Bett und drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick von dem anatomischen Präparat losreißen. Die Grazilität hielt mich gefangen. Manuel hatte recht, es wirkte wie eine Skulptur, längst vergessen von dem Künstler, der sie einst schuf.
Mirella deutete auf das Bett. »Eigentlich ganz gemütlich, oder? Also, den Umständen entsprechend. Ein schönes Bett, weißes Leinen. Hochwertig. Könnte auch aus der Zeit um 1900 sein, denke ich.«
»Es hat sich definitiv jemand Mühe mit diesem Ort gegeben«, sagte ich. » Wie für jemanden, der noch gar nicht gestorben ist. Ein Rückzugsort. Wer betreibt einen solchen Aufwand für eine Leiche?«
Mirella starrte mich an. »Und was,
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