Die dunkle Seite des Weiß
war alles ein wenig viel auf einmal.
Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und merkte, wie die Müdigkeit sich bleiern auf mich legte. Leise gähnend ging ich durch den schmalen, langgezogenen Flur hinüber ins Wohnzimmer. Vielleicht würde ein Glas Rotwein helfen. Es war zwar noch nicht einmal 10 Uhr morgens, aber das war mir in diesem Augenblick herzlich egal. Ich wollte nur noch schlafen. In Ruhe schlafen.
Ein kühler Wind strich mir ins Gesicht, als ich das Wohnzimmer betrat. Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Die Balkontür stand sperrangelweit offen. Ich verließ niemals die Wohnung, ohne die Balkontür zu schließen.
»Hallo, Jakob«, sagte in diesem Moment eine samtige Stimme hinter mir.
Ich wirbelte herum und spürte, wie mein Herz sich wie wild überschlug. Im Sessel vor dem Bücherregal saß Ernesto Sanchez, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände locker im Schoß verschränkt. Als er meine Überraschung sah, zuckte ein schiefes Grinsen in seinem Mundwinkel.
»Na? War‘s schön bei Simon?« Er erhob sich und schlenderte langsam auf mich zu. »Ich wusste gar nicht, dass meine Anwesenheit in diesem Fall für Sie so unerträglich ist. Aber Simon hat es mich direkt nach der Besprechung wissen lassen.« Ein kaltes Funkeln trat in seine Augen. »Ich bevorzuge allerdings das persönliche Gespräch, wenn es Unstimmigkeiten gibt. Und deshalb dachte ich, wir beide unterhalten uns jetzt einmal in aller Ruhe. Ganz ungestört unter Männern.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte Ernesto ausgeholt und einen gezielten Schlag in meinem Magen platziert. Ich keuchte auf und krümmte mich vor Schmerzen. Ernesto setzte nach und beobachtete ungerührt, wie ich zusammensackte.
»Wenn Sie denken, dass Sie mich aus dem Weg räumen können, um sich erneut an Mirella ranzumachen, dann haben Sie sich geschnitten. Ist das angekommen? Halten Sie sich von ihr fern, Jakob Roth, oder Sie werden sich wünschen, mir nie begegnet zu sein.« Er schnaubte verächtlich. »Ich merke doch, wie Sie sie ansehen. Mirella kann froh sein, Sie los zu sein. Sie sind ein jämmerlicher Versager.« Er beugte sich zu mir hinunter, fasste eine Ecke meines T-Shirts und wischte damit einen Fleck auf seinem Schuh fort.
Ich setzte mich mühsam auf und rang nach Luft. »Und deshalb sind Sie hergekommen? Um mir das auf so charmante Art zu sagen?«, presste ich hustend hervor.
Ernesto lächelte matt. »Nett von mir, nicht wahr?« Er musterte mich verächtlich, ein kaltes Funkeln in den Augen. »Finger weg von Mirella. Sie würden ohnehin scheitern.« Er klopfte sich ein Staubkorn vom Anzug. »Aber daran sind Sie ja gewöhnt.«
Damit drehte er sich um und verschwand mit leisem Pfeifen aus meiner Wohnung.
*
»Sie sind wirklich ein interessanter Patient«, sagte Oliver Menke leise, während er mit geschickter Hand die Akupunkturnadeln setzte. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, war bemerkenswert. »Unerklärliche Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Verfolgungswahn und jetzt mysteriöse Prügeleien. Was sagten Sie, sind Sie von Beruf? Agent Ihrer Majestät?«
»Sowas in der Art«, murmelte ich. Meine Rippen schmerzten noch immer von dem unerwarteten Schlag. Weit mehr allerdings schmerzte die Tatsache, dass dieser Schnösel mich so hatte erniedrigen können. Irgendwann würde ich es ihm heimzahlen. Mit Sicherheit. Was war nur in Mirella gefahren, dass sie mit diesem Kerl ins Bett stieg? Es wollte mir einfach nicht in den Kopf.
Menke hatte die letzte Nadel gesetzt und trat einen Schritt von der Behandlungsliege zurück. Vor einer halben Stunde war ich zusammengekrümmt in seiner Praxis aufgetaucht. Die Räume lagen nur eine Straße von meiner Wohnung entfernt. Nun lag ich auf der Liege in einem puristisch gehaltenen Raum, der durch Einfachheit und Symmetrie eine erholsame Klarheit ausstrahlte. Der Schmerz ließ von Minute zu Minute mehr nach. Ohne Zweifel, Oliver Menke verstand sein Handwerk. Und da war sicher mehr Ausbildungszeit von Nöten gewesen als nur ein Wochenendkurs an der Volkshochschule, wie er ironisch behauptet hatte.
Oliver Menke legte eine leichte Decke über mich und musterte dabei meinen Oberkörper, der sich im Bereich des unteren linken Rippenrandes ganz langsam rotbläulich zu verfärben begann. »Und Sie sind sicher, dass Sie mir nicht erzählen wollen, wie das passiert ist?«
Ich nickte. »Absolut sicher, ja.«
Menke schwieg einen Moment. Dann schüttelte er leicht den Kopf. »Gut, in Ordnung.«
Er ging zum Schrank
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