Die dunkle Seite des Weiß
hinüber und nahm ein kleines Fläschchen heraus. »Sind Sie Allergiker?«
»Nicht, dass ich wüsste«, murmelte ich. Wenigstens ein Bereich in meinem Leben, in dem ich nicht übersensibel auf alles reagierte. »Warum?«
Oliver Menke kam mit dem Fläschchen zurück an die Behandlungsliege. Ich beobachtete, wie er den Deckel abschraubte.
»Das hier ist ganz gut bei Muskelschmerzen«, sagte er, während er ein paar Tropfen des Öls auf seine Handfläche träufelte. »Und die werden Sie in den nächsten Stunden und Tagen wohl bekommen, soviel ist klar. Wer auch immer Ihnen das hier verpasst hat, war nicht gerade zimperlich.«
»Ja, er hatte einen gezielten Schlag«, antwortete ich trocken. Dann stockte mir der Atem. Die ätherischen Duftstoffe des Öls verteilten sich im Raum und ich konnte deutlich einen Geruch wahrnehmen, der mir merkwürdig bekannt vorkam. Nur woher? Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich war mir sicher, dass ich genau diesen Duft erst vor Kurzem gerochen hatte …
»Was ist das?«, fragte ich und merkte, wie aufgeregt meine Stimme klang.
Menke, der gerade die Decke zurückschlagen wollte, um ein wenig von dem Öl auf meinem Thorax zu verteilen, musterte mich überrascht. »Keine Sorge, es wird nicht wehtun. Im Gegenteil, es wirkt leicht schmerzstillend und fördert im Anschluss die Durchblutung.«
»Was das ist, will ich wissen!«
Menke trat einen Schritt zurück. »Kampfer. Ganz harmlos. Das Öl wird seit Jahrhunderten verwendet.«
Ich starrte ihn an und in meinem Kopf begannen die Gedanken zu rasen. Kampfer. Was wusste ich über Kampfer? Irgendein Gewächs, ein Baum. Der Geruch erinnerte mich an die Erkältungszeiten meiner Kindheit. Und ganz diffus an noch etwas Anderes …
»Kann ich bitte nochmal daran riechen?«, sagte ich stockend und ignorierte Oliver Menkes verwunderten Blick.
»Ja, natürlich.« Er hielt mir das Fläschchen unter die Nase.
Ich schnupperte vorsichtig. Der Geruch war intensiv, leicht stechend, er erinnerte an Eukalyptus und Fichtennadel … medizinisch … Ein Bild stieg in mir auf. Vor langer Zeit, ich konnte nicht älter als fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, hatte ich die Nachmittage manchmal bei einem Freund meiner Eltern in dessen Apotheke verbracht. Ich weiß noch genau, wie ich es geliebt habe, in dieser alten Apotheke herumzustromern. Die Schränke aus dunklem Holz, die neben meiner kleinen Gestalt wie mysteriöse Bäume an die geschwungene hohe Decke ragten. Die spannenden Momente, wenn eine der tiefen Schubladen aufgezogen wurde, wenn Mittel, Tuben, Salben und Öle zum Vorschein kamen. Der Freund meiner Eltern stammte aus einer Apothekerfamilie. Viele der überlieferten Rezepturen wurden von ihnen noch selbst hergestellt, was für mich damals unglaublich aufregend war. Und über allem hing stets der leichte Geruch nach Kampfer …
Ich merkte, wie die Zahnräder der Gedanken in meinem Kopf ineinandergriffen. Dann rastete etwas ein. Ein unmerkliches Klicken, ein kurzer Halt- und dann wurde es hell. Ich spürte den Impuls, laut aufzulachen. Ja, ich hatte diesen Duft wahrgenommen, vor einigen Tagen erst! Schwach, aber doch deutlich genug, dass er in mein Unterbewusstsein gedrungen war. Es war in Manuels Wohnung gewesen! Und an Manuels Kleidung. Entweder war er Rheumatiker und benutzte ein kampferhaltiges Mittel gegen Muskel- und Gelenkbeschwerden, oder aber es musste einen anderen Grund geben, weshalb dieser Geruch ihn umgab wie eine zweite Haut.
»Also, darf ich?«, fragte der Heilpraktiker.
Ich wandte den Kopf und starrte ihn einen Augenblick verständnislos an.
Er hielt das Fläschchen hoch. »Die Einreibung. Gegen den Schmerz. Darf ich?«
Ich lächelte, während sich in meinem Inneren ein sonniges Gefühl ausbreitete. Manuel hatte das Mädchen nicht umgebracht, nein. Aber er hing weitaus tiefer in der Sache drin, als er zugegeben hatte.
»Ja«, sagte ich leise. »Sie dürfen.«
*
»Simon? Hier ist Jakob.«
Einen Moment hörte ich nur Stille. Es schien meinem Chef die Sprache verschlagen zu haben.
»Was gibt's?« Simon war merklich irritiert, doch es schwang auch Neugierde in seiner Stimme mit. Er wusste, dass ich mich nicht so schnell wieder gemeldet hätte, wenn es nicht wichtig wäre. Und nun schien es, als erwartete er von mir plötzliche Erkenntnisse, die in Windeseile den Fall klären würden. Damit konnte ich nicht dienen. Noch nicht.
»Erinnerst du dich an den Anruf, den du heute Morgen erhalten hast, als wir in deinem Büro
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