Die dunkle Seite des Weiß
war da. Letztens. Weil ich wissen wollte, was mit Clara passiert, da in diesem Institut.«
Ich stöhnte leise auf. »Du warst das? Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank? Du bist in die Akademie eingebrochen!«
Manuel zuckte mit den Schultern. »Es war keine große Sache. Steht ja alles offen.«
Keine große Sache … ein Teenager auf Pilzen hielt es für keine große Sache, in das pathologische Institut der Akademie einzubrechen. Simon würde begeistert sein.
Manuel schluckte. »Ich wollte wirklich nichts kaputt machen. Ich wollte sie nur noch einmal sehen.«
»Clara?«
Manuel nickte bestimmt. »Ja. Ganz genau.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte ich. »Du hattest überhaupt keine Ahnung, wer diese junge Frau war. Warum also solltest du das Risiko eingehen, bei uns einzubrechen? Das macht keinen Sinn. Außerdem hat jemand in den Schränken herumgestöbert. Du hättest ein wenig besser aufräumen müssen, wenn du gewollt hättest, dass niemand etwas mitbekommt.«
Manuel schluckte trocken. »Er hat es so gewollt.«
»Wer?«
»Der Typ mit den Briefen. Er sagte, ich soll das Tagebuch zurückbringen. Aber es war nicht bei der Leiche. Und auch nicht im Schrank.«
Nein. Da konnte es auch nicht sein. Das Tagebuch war bei mir. »Wer ist dieser ominöse Typ, hast du irgendeine Ahnung?«
Manuel neigte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ehrlich. Wenn ich es wüsste, ich würde sofort auspacken. Er ist irgendwie – beängstigend.«
Ich schnaubte leise. »Dann pass mal gut auf, dass keiner nachts unter deinem Bett hervorspringt.«
Ich wandte mich zum Gehen. »Gib sofort Bescheid, wenn er sich nochmal meldet. Verstanden? Und ansonsten erwarte ich von dir, dass du deinem Stiefvater berichtest, wer für das Verschwinden von Mitteln aus dem Apothekengiftschrank verantwortlich ist. Dann könnt ihr überlegen, ob du dich selbst anzeigst.« Ich fixierte Manuel mit meinem Blick, bis er beschämt die Augen niederschlug. »Das ist ein Deal zwischen uns und ich erwarte, dass du ihn einhältst. Wenn du es nicht freiwillig machst, werde nämlich ich dich anzeigen. Und das ist kein Bluff. Schönen Tag noch.«
Kapitel 9
09. Oktober 1911
Die Frau des Doktors wacht über unsere Ruhephasen. Wie sehr ich auch versuche, sie zu täuschen und mir ein Buch auf die Liegeterrasse mitzunehmen, sie bemerkt es immer. Luise nennt sie »Adlerauge«.
Heute hat sie mir den Lasker-Schüler-Band abgenommen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie mich hasst. Dass sie mich mehr noch als alle anderen im Auge behält. Wo ich gehe und stehe, Alma Ewald beobachtet mich. Ich spüre ihre Gegenwart überall. Was habe ich getan, dass sie so zu mir ist? Was kann ich dafür, dass der Doktor alles tut, um mir zu helfen? Vielleicht mehr tut, als er müsste?
Sie tadelte mich wegen des Buches. Solche Texte würden den Geist beunruhigen und die Gedanken flatterhaft machen wie Gespenster. Fast hätte ich laut gelacht. Was sind wir alle hier denn anderes als wandelnde Geister, schon jetzt?
Ich werde zum Doktor gehen und meine Lasker-Schüler zurückfordern! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Es dauerte einen Moment, bis ich das zögerliche Klopfen an meiner Wohnungstür realisierte. Nach meiner Rückkehr aus Potsdam war ich ins Bett gefallen und hatte einige Stunden geschlafen wie ein Toter. Dann, nach einer Dusche und Rührei mit Schinken, hatte ich mich soweit wieder hergestellt gefühlt, dass ich mir noch einmal Claras Tagebuch vorgenommen hatte. Ich war eingetaucht in ihre Erzählungen von damals, hatte mich der Entzifferung der feinen Kurrentschrift gewidmet und dabei das Gefühl gehabt, mehr und mehr in Bereiche einzudringen, die mich nichts angingen. Die Welt dieser jungen Frau, die aus verarmtem Adel stammte und in den Beelitzer Heilstätten ums Überleben gekämpft hatte. Und dann, urplötzlich, verschwunden war. Das Tagebuch endete abrupt am 17. November 1911. Danach verlor sich jede Spur.
Ich hatte das Gefühl, das entscheidende Puzzleteil nicht zu finden. Laut Hades war Kalium und Arsenit bis ins die 60er Jahre des 20ten Jahrhunderts eine gängige Medikation gewesen. Doch die Mengen, die er im Gewebe der Leiche gefunden hatte, waren verschwindend gering. Vielleicht Restbestände einer Behandlung, die viele Jahrzehnte zurücklag. Was, wenn das Kaliumarsenit, das Manuel besorgt hatte, gar nicht für Clara bestimmt gewesen war? Sondern für jemand anderen? Und wenn ja – für wen? Wer war der Auftraggeber? Und was genau war die
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