Die dunkle Seite des Weiß
das Gelände streift. Manchmal stehe ich einfach nur im Dunkeln, sehe hinauf und frage mich, was genau er tut. Luise meint, die Intensität, mit der er arbeitet, sei nicht normal. Ist das so? Und kann es nicht sein, dass ein Mensch einfach nur beseelt ist von seiner Arbeit? Von einem Lebenswerk?
Ich war so aufgeregt, als ich zu ihm ging, denn es ist den Patienten nicht erlaubt, die Büros zu betreten. Doch was sollte ich machen? Der Gedichtband! Ich wollte ihn doch zurück. Ich klopfte vorsichtig an, aber niemand reagierte. Als ich schließlich die Tür öffnete, lag das Büro verlassen da.
Ich weiß nicht genau, warum ich blieb. Vielleicht waren es die seltsamen Präparate, die im ganzen Raum verteilt waren, auf Regalen, in Vitrinen, die mich wie magisch anzogen. Ich habe sie mit einer nie gekannten Mischung aus Faszination und Angst betrachtet. Es waren menschliche Lungen, unzählige, kleine und große, immer und immer wieder, nichts als Lungenflügel, die wie erstarrte, aufgespannte Schmetterlinge im Raum schwebten.
»Gefallen sie dir?«
Niemals hat mich etwas so erschreckt wie die Stimme des Doktors plötzlich hinter mir. Ich hatte ihn nicht kommen hören und wirbelte herum, mein Herz raste. Er muss meine Angst gesehen haben, denn er lächelte und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Er hat große, kräftige Hände, deren Wärme sich wie ein schützender Schirm auf der Haut ausbreitet, und die trotzdem feingliedrig sind wie die eines Chirurgen. Wenn er einen berührt, dann möchte man die Augen schließen und nie wieder öffnen. Er ist so ganz anders als Viktor.
Ich weiß nicht, warum Luise immer sagt, dass sie dem Doktor nicht traut. Ich werde sehr ruhig, wenn er zugegen ist. Wer solche gütigen Hände hat, kann kein schlechter Mensch sein.
Es scheint, als würde ich endlich einen Ausweg aus der unendlichen Langeweile dieses Ortes finden. Der Doktor erklärte mir, was es mit der Präparation der Lungen auf sich hat. Wie man sie säubert, mit Lösung behandelt, wie man sie in Form bringt, damit sie grazil und luftig ihre Schönheit entfalten. Es ist mehr eine Kunst denn ein Handwerk. Er muss meine Faszination gespürt haben, denn er fragte mich, ob ich assistieren möchte.
Vielleicht brauche ich die Bücher bald nicht mehr. Vielleicht habe ich etwas gefunden, das mich in andere Welten bringt. Meine Wunder.
Ich starrte grübelnd aus dem Fenster. Ganz offensichtlich hatte Clara dem Doktor vertraut. Und war außerordentlich fasziniert gewesen von den anatomischen Präparaten. Ihre Worte erinnerten mich fast ein wenig an Hades‘ schwärmerische Ausführungen über die Schönheit der Tuberkulose. Mir mochte es befremdlich erscheinen, dass ein Arzt sich mit präparierten Lungen umgab. Hades hätte das sicher nur ein müdes Achselzucken entlockt.
Clara hatte die Präparate bis zuletzt um sich gehabt. Es musste sich um die gleichen handeln, die wir auch im Kellerraum der Heilstätten entdeckt hatten. Ein Schauer lief mir über den Rücken bei dem Gedanken, dass sie vielleicht auf unzählige Lungen geblickt hatte, während ihr das letzte bisschen Atemluft ausging. Welch grausame Ironie …
Ich griff nach der Akte. Injektionsserie 7B. Solange wir darüber nicht mehr Informationen hatten, schien alles in eine Sackgasse zu führen. Und wir kamen keinen Schritt weiter. Die Unterlagen, die Katherine zusammengetragen hatte, brachten uns auch keine weiteren Erkenntnisse über den Verbleib des Doktor Ewald. Während des Ersten Weltkrieges hatten die Beelitzer Heilstätten als Lazarett gedient und er wurde noch in den Akten der behandelnden Ärzte geführt. Doch danach verlor sich seine Spur. Ganz offensichtlich hatte die Injektionsserie 7B nicht den Erfolg gebracht, den er sich erhofft hatte. Erst die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming Ende der 1920er Jahre hatte den Kampf gegen die Tuberkulose entschieden. Vorerst.
Ich lenkte den Blick aus dem Fenster, hinauf zum grauen Himmel, der sich über Berlin zusammengeballt hatte. Eine Decke aus trübem Blei, die schwer über uns hing, die Gedanken betäubte und das Gemüt träge werden ließ.
Die Erinnerung an Katherine kehrte zurück und verursachte einen leichten Druck in der Magengegend. Betäubung. War es das gewesen? Hatte ich mir ihr geschlafen, um endlich nicht mehr den alten Dämonen ausgesetzt zu sein? Was immer der Grund gewesen war, es hatte nicht funktioniert. Und ich konnte nur hoffen, Katherine nicht so maßlos verletzt zu haben,
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