Die dunkle Seite des Weiß
dir sollte in der letzten Nacht aufgefallen sein, welche Wirkung du auf mich hast, denn sonst habe ich irgendetwas brachial falsch gemacht.«
Katherines Gesicht blieb unbewegt.
Ich fuhr fort zu sprechen. »Dass wir beide kein Paar werden, war mir auf eine diffuse Art klar, ja. Aber gestern dachte ich, dass es vielleicht gut wäre, dem Ganzen eine Chance zu geben.«
Katherine verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Und warum gibt es diese Chance heute nicht mehr?«
Ich legte den Kopf schräg. »Weil bei Tageslicht vieles nicht mehr so einfach erscheint wie nachts nach ein paar guten Gläsern Wein.«
Katherine atmete zischend aus. »Alles klar. Und weil eine gewisse Mirella Mistrani zufällig heute diese verdammten Scheißbrötchen vorbeibringen musste.«
Zielstrebig ging sie an mir vorbei und sammelte dabei ihre Kleidung vom Boden auf. Das Kleid, die Stiefel, die Strumpfhose. Ich ging ihr nach, während sie im Schlafzimmer Höschen und BH zusammenraffte.
Dann drehte sie sich zu mir um. Ich war an der Tür stehengeblieben und erschrak vor der distanzierten Kälte, die mir plötzlich aus Katherines Aura entgegenschlug.
»Du solltest dich freuen«, sagte sie eisig.
Ich hob die Brauen. »Darüber, dass meine Lieblingsarchivarin mich jetzt zur Hölle wünscht?«
»Die Hölle wäre zu gut für dich.« Sie atmete tief durch. »Nein. Ganz offensichtlich bist du Mirella nicht egal. Und das ist es doch, was du dir wünschst. Auch wenn du es niemals zugeben würdest.«
Als ich schwieg, nickte Katherine knapp und drehte sich um. »Ich ziehe mich jetzt an. Vermutlich hast du nichts dagegen.«
»Katherine?«, sagte ich, und stellte schnell den Fuß in den Spalt der Schlafzimmertür, damit sie sie nicht schließen konnte.
Katherine hob stumm die Brauen.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise und zog meinen Fuß zurück. »Wirklich. Ich wünschte, ich … wäre nicht so verkorkst. Aber so bin ich. Leider.«
Unsere Blicke trafen sich. Katherine nickte wortlos und das Schimmern in ihren Augen verstärkte sich. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.
Kapitel 10
Das Wochenende zog sich hin und erst am Sonntagvormittag ließ das Schneegestöber vor dem Fenster wieder nach, gefolgt von abrupt steigenden Temperaturen und dem Wechsel von Sonnenschein und grauen Wolken. Es war ein merkwürdiger April, voller Überraschungen. Nicht nur, was das Wetter anging.
Seit Katherine gegangen war, hatte ich mich vergraben und bemühte mich, mein schlechtes Gewissen damit zu verdrängen, dass ich die Puzzleteile des Falles, die wirr um mich herum verstreut zu sein schienen, zusammenzusetzen versuchte. Doch so sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, es ergab kein klares Bild. Woran war Clara gestorben? Am Arsen? An pflanzlichen Toxinen? Am Quecksilber? Oder an etwas ganz Anderem? Was hatte dafür gesorgt, dass ihre TBC abgeheilt war? Wer hatte sie in diesen Kellerraum gebracht und vor allem – warum war sie nicht gealtert?
Es erschien mir, als würden sich immer mehr Fragen auftun, je tiefer wir in diesen Fall einstiegen. Dass ich ab sofort wohl nicht mehr mit Katherines Hilfe würde rechnen können, und das ganz zu Recht, lag mir zusätzlich schwer auf der Seele.
Am frühen Sonntagabend lag ich schließlich rücklings auf dem Dielenboden, hatte eine alte Louis Armstrong Aufnahme aufgelegt und blätterte einmal mehr in Claras Tagebuch. Es musste eine Spur geben. Einen Zusammenhang. Irgendetwas, das ich übersehen hatte! Ich starrte auf das Chaos aus Akten, Archivdokumenten und Notizen, das sich auf meinem Schreibtisch ausbreitete wie ein gierig wachsender Dschungel. Die Unterlagen warteten, das Geheimnis der Lösung tief in sich verborgen. Und für einen Moment war mir, als könnte ich die vielen vergessenen Jahre unter dem Papier leise atmen hören.
Ich blätterte einmal mehr durch die Seiten des Tagebuchs. Raschelnd floss das dünne Papier mir durch die Finger. Die Heilstätten. Die Liegekuren. Luise. Viktor. Doktor Ewald.
Irgendwo dort war der Schlüssel. Irgendwo.
10. Oktober 1911
Ich habe meine Lasker-Schüler zurück. Doch nicht das ist es, was mich nicht schlafen lässt. Es ist Doktor Ewalds Büro, in dem ich heute war. Er arbeitet unentwegt, scheint mir. Wenn er sich nicht um uns kümmert, die wir hier mühsam das letzte bisschen Luft in unsere Lungen hineinziehen und wieder ausatmen, dann widmet er sich seinen Studien. Nächtelang brennt Licht in seinem Raum, man sieht es an den hell erleuchteten Fenstern, wenn man über
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