Die dunkle Treppe
uns etwas essen«, schlug er vor, legte einen Arm um mich und geleitete mich die Treppe hoch.
Hamish hatte meine Leibspeise mitgebracht: Brot und Erdnussbutter. Er deckte den Tisch, während ich mich mit mindestens drei Handtüchern zu wärmen versuchte.
Der Typ sei ein Irrer, sagte Hamish, mit einem ellenlangen Vorstrafenregister. Man habe ihn des Landes verwiesen, er habe gegen Bewährungsauflagen verstoßen, sei nicht vor Gericht erschienen – und so weiter und so fort.
»Hamish, es geht nicht nur um Pete. Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss.«
»Was denn, Schätzchen?«
»Das Telefon kann jede Minute klingeln«, sagte ich und erzählte ihm, wer mich anrufen würde.
Er hörte auf, Erdnussbutter auf Brote zu streichen, und nahm mich fest in den Arm. »Ist ja gut, ist gut, ich bin ja da.«
***
Es fühlte sich an, als ob das Telefon in mir geklingelt hätte. Jahrelang hatte ich auf diesen Augenblick gewartet, und jetzt war er da. Unsere Umarmung erstarrte. Wir lösten uns voneinander, holten tief Luft und gingen Hand in Hand zum Empfangstresen.
Es war Dr. Gibbons mit den Untersuchungsergebnissen. Als ich seine Stimme hörte, schlug eine Welle des Schreckens mit voller Wucht über mir zusammen, und ich ließ Hamishs Hand los. Dr. Gibbons sprach eine Weile, länger als ich gedacht hatte, und ich setzte mich hin, sah die Rückwand des Raums an und hörte zu. Nahm einfach alles in mich auf. Dr. Gibbons war ein freundlicher Mensch, war er immer schon gewesen.
»Sind Sie noch da?«, fragte er, als ich eine Weile geschwiegen hatte.
»Ähm …« Ich konnte dem netten Arzt leider nicht antworten, weil ich nicht genau wusste, ob ich da war oder vielleicht ganz woanders. Ich stand auf, um selbst nachzusehen, um in dem Spiegel am Empfang mein Gesicht zu berühren und mein Spiegelbild zu betrachten, als ob es ein Beweis für meine Anwesenheit an diesem Ort wäre und dafür, dass ich tatsächlich gehört hatte, was ich gerade gehört hatte. Ich drehte mich um und schaute den Spiegel an. Aber es war zu dunkel, und ich sah gar nichts. Ich starrte einen Moment lang in die Dunkelheit, ehe ich antwortete. »Ja, ich bin hier. Es geht mir gut, danke. Nein, ich bin nicht allein. Ja, mache ich. Wiedersehen, Doktor. Vielen Dank.« Ich legte auf.
Dann drangen Geräusche aus mir, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte. Keine fröhlichen Geräusche. Ich hatte das Huntington-Gen. Genau wie meine Mutter würde ich eines schrecklichen Todes sterben. Würde mich nur noch unbeholfen bewegen können. Verdammt, ich bewegte mich jetzt ja schon unbeholfen. Ich war auf dem Bürgersteig gestolpert, hatte mir den Kopf am Kühlschrank gestoßen. So würde es von nun an immer sein. Wenn ich mich an einem Stück Papier schnitte, würde ich mich fragen, ob es jetzt losginge, und wenn ich eine Telefonnummer vergäße, wäre es genauso. Vielleicht hatte es wirklich schon angefangen. Ich würde die Kontrolle über meinen Körper verlieren, würde komische, abgehackte Bewegungen machen, die andere Leute in Angst und Schrecken versetzten. Ich würde vergesslich werden, und zum Schluss würde ich ersticken. Ich würde nie jemanden richtig lieben dürfen, nie Kinder haben können. Wenn es so weit wäre, würde Ursula längst verheiratet sein (oder im Katherine Gorge zelten). Papa wäre alt oder tot, und ich würde einsam und verlassen sterben, ohne dass jemand, der mich liebte, meine Hand hielte. Bitte, lieber Gott, gib mir das Nichtwissen wieder. Bitte gib mir das Nichtwissen wieder.
Ich fiel auf die Knie und trommelte mit den Fäusten auf die Marmorplatten. Ich schrie und heulte und stöhnte und wand mich wie eine halb zertretene Ameise auf dem Boden: »NEIN!« Ich wollte nicht sterben. Ich wünschte, ich hätte nicht angerufen. Ich hätte niemals anrufen sollen. Nichtwissen war besser als Wissen. Zu wissen, dass dieses schreckliche Etwas in mir saß, dass es ein Teil von mir war, dass es mir immer einen Schritt voraus sein würde … das war so ungerecht! Warum ich?
Alles, was Leute in solchen Situationen sagen, sagte auch ich – wenn ich nicht gerade laut schrie. Und ich meinte es genauso wie all die anderen auch. Es ist so ungerecht. Ich bin doch erst achtzehn. Ich habe ein nutzloses Scheißleben geführt, und jetzt wird es nur noch nutzloser und beschissener werden. Warum gerade ich? Verdammt!
Hamish kniete nieder und nahm mich in den Arm. Er hielt mich fest, während ich schrie und weinte. Ich fürchte, ich wütete noch
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