Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
natürlich ochsenblutrot gestrichenen Sommerhäuschen gelegen, als ein Mann das Feuer auf sie eröffnete. Ein Mann, den man heute als Stalker bezeichnen würde. Buchstäblich Hunderte von Briefen hatte er seiner Angebeteten geschrieben. Liebesbriefe, Gedichte, halbe Romane. Sie hatte ihm – was im Nachhinein ein Fehler war – anfangs einige Male knapp, aber höflich geantwortet. Später nicht mehr. Frau Björndal wurde von drei Kugeln aus einem sechsschüssigen Revolver getroffen. Zwei Schüsse gingen daneben. Die letzte Patrone hatte der Täter für sich selbst aufgespart. Heute war Agneta Björndal zweiundsiebzig Jahre alt und noch immer gezeichnet von ihrer persönlichen Apokalypse, die damals von einer Sekunde auf die nächste über sie hereingebrochen war.
Inzwischen war mir klar geworden, was Grafs Konzept war: Thema des Abends war der Mordanschlag auf ihn selbst. Er und seine Leute hatten es geschafft, innerhalb von vielleicht vierundzwanzig Stunden eine völlig neue Sendung auf die Beine zu stellen. Man sprach zunächst über die Schauspielerei. Lachte zusammen über die Torheiten, die man damals begangen hatte. Aber natürlich landete man bald beim Thema: Wie geht es einem Menschen, den jemand töten wollte? Wie wird man mit so etwas fertig?
»Überhaupt nicht«, erwiderte die Schauspielerin, die fast perfekt Deutsch sprach und, wie ich bald merkte, alles andere als dumm war. »Mit so etwas wird man niemals wirklich fertig. Auch heute noch fahre ich manchmal nachts aus dem Schlaf und bin schweißgebadet.«
Dieses Mal hielt man keine Weingläser in der Hand. Vielleicht trank die Schwedin keinen Alkohol.
»Hasst du den Täter?«
»Hassen?« Sie sah Graf erstaunt an. »Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich ihn hassen könnte. Aber für mich ist der Mann ein armer, zutiefst unglücklicher Mensch gewesen. Vielleicht trage ich ja mit den Rollen, die ich damals spielte, auch ein wenig Schuld an dem Drama. Er war verliebt. Hoffnungslos und zutiefst unglücklich verliebt. Mir ist ein Unglück geschehen, verstehst du? Könnte ich einen Baum hassen, gegen den ich auf winterlichem Glatteis gerutscht bin?«
»Das ist eine bewundernswerte Einstellung, Agneta.«
»Ich finde, es ist die normalste Einstellung der Welt, Marcel. Das Alte Testament ist seit zweitausend Jahren Geschichte.«
Man kam wieder zur Schauspielerei. Erinnerte sich an die Wenigen, die man noch kannte, und vergaß nicht der Unzähligen zu gedenken, die sich mit gelegentlichen Engagements und vielen Nebenjobs über Wasser hielten. Kurz bevor es begann, ein wenig langatmig zu werden, strahlte Graf seinen Gast an und bedankte sich für das interessante Gespräch.
»Möchtest du dem Publikum noch etwas sagen, Agneta?«
Sie wirkte überrascht. Verwirrt. Offenbar war die Frage nicht abgesprochen. »Etwas sagen?«, murmelte sie. »Ja … Ich … Es gibt etwas, das ich bis heute nicht begreife. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Aber es geht und geht mir nicht aus dem Kopf. Carl, so hieß er …«
»Du nennst deinen Beinahe-Mörder beim Vornamen?«
»In Schweden nennen wir uns alle beim Vornamen. Carl hat sich in den Kopf geschossen … und die Polizei hat den … die Waffe erst nach Tagen … im Wasser … fast fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo er stand …«
»Das heißt, er hat quasi noch im Tod die Waffe weggeworfen?«
Sie nickte fahrig. »Und ich frage mich jede Nacht vor dem Einschlafen, wozu? Jede Nacht. Wozu hat er das getan? Und so weit? Fünfzig Meter, das ist doch sehr weit? Oder ist sie vielleicht irgendwie durch den Rückstoß …? Ist so etwas möglich? Es ist vollkommen dumm, ich weiß, aber diese Kleinigkeit, sie lässt mir einfach keine Ruhe.«
Dieses Mal blieb der Saal völlig ruhig. Das Licht auf die gelbe Couch verdämmerte. Musik setzte wieder ein. Auch ich war sprachlos. Versuchte, mir die Szene vorzustellen. Ein Mann, der fünf Schüsse auf die unglückliche Liebe seines Lebens abgegeben hat, auf die schöne Frau, die er niemals, niemals besitzen würde. Die letzte Kugel hat er sich durch die Schläfe gejagt. Und dann wirft er – vermutlich im Zusammenbrechen – die Waffe ins Meer. Nein, auch ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich diese Sendung, die ich mir unter normalen Umständen nie im Leben angetan hätte, rundum genoss. Graf war ein Genie darin, sich in Sekundenbruchteilen auf einen neuen Gesprächspartner einzustellen, sich im richtigen Moment
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