Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
normal in unserem Leben. Ich bin nicht auf Spielplätze mit ihm gegangen wie die anderen Mütter. Er musste immer hier spielen. Allein. Im Park oder im Haus. Platz war ja zum Glück reichlich. Ich habe ihm seinen eigenen Spielplatz eingerichtet. Schaukel, Wippe, Sandkasten, alles. Ich habe mich versteckt. Uns versteckt. Mein Kind versteckt. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich zwei Leben führte: das der heimlichen Mutter, die sich für ihr Kind schämt, für das Versagen ihres Körpers schämt. Und das der Schauspielerin. Ja, ich war gut. Ja, ich hätte es vielleicht zu etwas gebracht. Aber Raoul. Immer wieder Raoul. Nicht einmal in Urlaub fahren konnten wir mit ihm …«
»Und vor zwei Wochen war sein Geburtstag.«
Sie nickte, als käme meine Stimme aus ihrem Kopf.
»All die Jahre, gleichgültig, wo ich war – zu seinem Geburtstag war ich immer bei ihm. Wenigstens das. Und dieses Mal dachten wir, da Marcel ohnehin in Heidelberg war und ich wieder in diesem Haus lebe, holen wir ihn doch her. Wir haben Raoul bringen lassen. In das Haus, wo er seine Kindheit verbracht hat.«
»Hat er sich gefreut?«
»Ich weiß es nicht. Es ist schwer zu durchblicken, was in ihm vorgeht. Manchmal hatte ich den Eindruck, er erkennt etwas wieder. Sein Kinderzimmer, in dem heute keine Möbel mehr stehen. Die Küche, die sich natürlich auch verändert hat. Den Park, wo früher seine Schaukel stand. Wir haben Kuchen gegessen. Raoul – er muss immer noch gefüttert werden. Mit vierzig Jahren. Es war ein runder Geburtstag und … fast nicht zu ertragen. Ich war so froh, als es vorbei war.«
»Auf seine Weise hat er sich gefreut, da bin ich mir sicher.«
Sie nickte mit gesenktem Blick. Mir war nicht klar, ob sie meine Worte verstanden hatte.
»Und wie war es nun damals wirklich, in jener unseligen Novembernacht?«
Jetzt sah sie auf, mir gerade in die Augen. Aufgewühlt. Verstört. Und aus tiefster Seele erleichtert, dass sie endlich reden konnte. Die Wahrheit sagen durfte. Endlich.
»Es war alles, wie ich es geschildert habe. Marcel in Köln, Vicky oben. Die Geräusche. Raoul hat geschlafen. Es war immer ein Elend, bis er endlich einschlafen konnte. Er hatte eine solche Unruhe in sich. Und Kraft auch schon. Wie er klein war, da war alles noch einfacher. Aber er kam allmählich in die Pubertät, viel zu früh – und ich weiß nicht – mit jedem Tag wurde er unerträglicher. Ich saß hier, auf dieser Couch, fühlte mich wieder einmal hundeelend. Schuldig. Verzweifelt. Und oben dieses Flittchen, das mit meinem Mann telefonierte. Mit dem Vater meines Sohnes. Dem Vater, den ich gerade jetzt so dringend gebraucht hätte. Zum Reden. Wenigstens zum Reden.«
»Sie sind nach oben gegangen …«
»Und wir haben gestritten. Sie hat gegrinst. Dieses ewige, ewige Schlampengrinsen. Die dumme Verachtung der Siegerin. Aber es war dann nicht ich, die tätlich wurde, sondern sie. Und auf einmal stand Raoul in der Tür mit offenem Mund und blödem Blick. Seinen ekligen Teddybär unterm Arm, dieses verfilzte, stinkende Ding, das er keine Sekunde loslassen konnte, das man niemals waschen durfte. Er hatte uns gehört. War aufgewacht. Und nun stand er da. Mit sabbernden Mund. Und hat nichts begriffen. Nur, dass sie böse auf mich war. Vicky hat ihn erst gar nicht gesehen, hat mich weiter herumgeschubst, verspottet, ausgelacht. Raouls Schrei werde ich nie vergessen. Den zornigen Schrei eines Menschen, der nicht sprechen kann, nur lallen. Er hat sich einfach auf sie gestürzt, ein fetter Knirps, kaum halb so groß wie sie, hat sie aus vollem Lauf umgerannt. Nicht einmal angefasst hat er sie. Einfach mit der Schulter in den Bauch, den Teddy immer unterm Arm, ganz fest im Arm, sie stolpert, schreit, fällt, und aus. Und aus.«
Elisabeth von Brühl, die Queen, sah mir immer noch starr in die Augen, ohne mich zu wahrzunehmen. Lange war es still. Ein müdes Vögelchen zirpte vor den hohen, zugigen Sprossenfenstern.
Schließlich sagte sie ein drittes und letztes Mal: »Und aus.«
Nachwort und Danksagung
Liebe Leserin, lieber Leser,
um es gleich zuzugeben und bösen E-Mails zuvorzukommen: Die dunkle Villa werden Sie in Heidelberg vergeblich suchen. Und schon gar nicht steht sie dort, wo ich sie hingedichtet habe. Nicht immer richtet sich die Realität nach der Phantasie des Autors, und manchmal ist das vielleicht auch ganz gut so. Wenn es gar nicht passen will oder soll, dann nennt man das dichterische Freiheit. Und auch wenn ich gewiss kein
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