Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
vor zwei Wochen, um mit Ihnen auf Ihren Geburtstag anzustoßen. Ich selbst hatte übrigens die Ehre, mir bei dieser Gelegenheit eine Gehirnerschütterung zuzuziehen, an der Ihr alter Freund Johann Boll tatkräftig mitgewirkt hat.«
»Eine Gehirnerschütterung?«
»Wer hat am siebten Februar Geburtstag, Frau von Brühl? Ich werde nicht gehen, solange ich keine Antwort habe.«
Langsam wich alle Kraft erst aus ihrer Miene, dann aus ihrem Körper. Sie senkte den Blick in Zeitlupe. Suchte immer noch in höchster Aufruhr nach einem Ausweg. Nach einer Fluchtmöglichkeit. Und musste endlich einsehen, dass diese Suche vergeblich bleiben würde.
»Raoul«, gestand sie fast unhörbar leise.
»Ihr Sohn.«
Sie nickte kaum merklich.
»Er war es, nicht wahr? Ihn decken Sie die ganze Zeit. Sie und sein Vater. Für Ihren Sohn haben Sie damals dreihunderttausend Mark ausgegeben und unvorstellbar viel Leid auf sich genommen und dreißig Jahre lang gelogen. Warum?«
»Es wäre gut gegangen«, murmelte sie tonlos. »Es ist gut gegangen. Wenn Sie nicht gekommen wären …«
»Ich bin aber gekommen. Ich bin hier. Fred Hergarden ist auch gekommen und wollte endlich die Wahrheit erfahren. Er ist in der vergangenen Nacht gestorben – mit der falschen Wahrheit im Kopf.«
»Er hat mich angerufen.«
»Hergarden?«
»Er hat mich vor etwa vier Wochen angerufen. Sagte, er sei wieder in Deutschland und wolle, dass Marcel endlich bestraft wird. Er dachte von Anfang an, Marcel sei der Schuldige. Er sagte, er würde keine Ruhe geben, bis alles geklärt war. Und wenn sonst niemand etwas unternehmen sollte in der Sache, dann solle Marcel sich vor ihm in Acht nehmen.«
»Wie war das nun mit Ihrem Sohn?«
»Raoul war elf«, flüsterte sie. »Elf Jahre alt.«
»Wo ist er heute?«
»In einem Heim in Mosbach. Es geht ihm gut dort. Er fühlt sich sehr wohl.«
»Seit wann?«
»Seit damals. Ich … Ich bin eine schrecklich schlechte Mutter.«
»Unsinn.«
»Aber doch! Ich bin nie, nie, nie damit klargekommen, dass mein Kind … nicht normal sein sollte. In der Schwangerschaft war doch alles in Ordnung gewesen. In unserer Ehe war – damals – alles in Ordnung. Mit mir war alles in Ordnung. Alle meine Verwandten haben gesunde Kinder bekommen. Soweit sie überhaupt Kinder bekommen haben, natürlich. Bei der letzten Ultraschalluntersuchung, bei den Blutproben, alles, alles war immer in bester Ordnung. Und dann, bei der Geburt … irgendwas ist schiefgegangen. Und wie ich wieder zur Besinnung kam, da waren sie alle so seltsam. Raoul sei auf der Intensivstation, erklärte man mir. Nur vorübergehend. Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Auch Marcel hat so merkwürdig getan. Und niemand wollte mit mir reden. Niemand. Angeblich nur eine Vorsichtsmaßnahme. Welche Ängste … Und dann der Schock. Sauerstoffmangel. Während der Geburt. Viel zu lange. Marcel meinte später, wir müssten den Arzt verklagen. Oder die Klinik. Oder alle beide. Aber das war natürlich Unsinn. Alles Unsinn. Er war wütend. So wütend. Dann meine Mutter. Diesen Blick hätten Sie sehen müssen, als sie es erfahren hat. ›Wieder mal typisch‹, sagte dieser Blick. Sie hatte sich einen kraftstrotzenden Mann geangelt, der das Familienunternehmen erst richtig groß machte, und vier proppengesunde Kinder in die Welt gesetzt. Drei Söhne, alles Musterknaben. Nur die Tochter, ach herrje. Einen Luftikus geheiratet, nichts Gescheites gelernt, und nun auch noch das … Meine wunderbaren Brüder haben die Firma nach Papas Tod übrigens sehr zügig zugrunde gerichtet. Ich selbst habe dieses Haus und etwas Geld geerbt, und … aber das tut ja nichts zur Sache. Erst nach sechs Wochen durften wir unseren kleinen Sohn mit nach Hause nehmen. Körperlich war er völlig normal. Nur die Reflexe. Alles war so langsam bei ihm. Ich habe ihn natürlich trotzdem geliebt. Natürlich. Er war so süß. So klein. So warm. Aber mit den Jahren … Es wurde immer schwieriger mit ihm. Es ging einfach nicht voran. Mit elf Jahren, als … es geschah, hat er nachts immer noch Windeln tragen müssen. Immer haben wir ein Kindermädchen gebraucht. Später sogar zwei, die sich abwechselten, weil wir ja oft auch abends nicht da waren. Und er konnte so entsetzlich wütend werden. So unvorstellbar wütend, wenn etwas nicht so lief, wie er sich das in seinem kleinen kranken Kopf vorgestellt hatte. Er konnte so dickköpfig sein. Zum Verzweifeln dickköpfig. Und dann doch wieder so lieb. So anschmiegsam. Nichts war
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