Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
vorkam. Anlässlich des fünfzigjährigen Betriebsjubiläums im Jahr 1983 war eine kleine Schauspielertruppe aufgetreten und hatte eine Bühnenbearbeitung von Goethes Wahlverwandtschaften zum Besten gegeben. Die Liste der Darsteller umfasste nur sechs Einträge, und hinter »Ottilie« stand der Name »V. Heergarten« – vermutlich falsch geschrieben. Ob die Aufführung ein Erfolg gewesen war, konnte ich dem kurzen Text nicht entnehmen.
Der Blick, mit dem meine Sekretärin mir die enttäuschend dünne Akte in die Hand drückte, ließ eine längere Störung des Betriebsfriedens fürchten.
»Ich denk, Sie liegen im Bett?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung.
»Wie soll ich Ihnen die Tür öffnen, wenn ich im Bett liege?«
»Sie sehen aber nicht aus, als wären Sie grad erst aufgestanden!«
Ich versuchte zu argumentieren, mich zu verteidigen, aber sie weigerte sich zuzuhören, wünschte mir kühl gute Besserung und einen langweiligen Abend mit meiner Akte und machte auf dem Absatz kehrt. Nicht einmal ein paar Blümchen hatte sie mir mitgebracht.
»Todesfallermittlung Viktoria Hergarden«, stand mit eckiger Handschrift auf dem Pappdeckel des grauen Hängeordners. In der Mappe befanden sich ein dreiseitiges, mit Maschine geschriebenes Protokoll sowie einige farbige Tatortfotos im Format 13 × 18. Am Ende waren praktischerweise auch noch Kopien des Totenscheins und des Personalausweises der Verstorbenen beigefügt.
Noch im Stehen begann ich zu lesen.
Der Anruf hatte die Heidelberger Polizeidirektion am Morgen des zehnten November 1985 erreicht, um neun Uhr vierundfünfzig. Eine Frau Elisabeth Holland hatte sich Sorgen um ihre Nachbarin gemacht, entnahm ich der ebenfalls abgehefteten Telefonnotiz. Diese Nachbarin, die im selben Haus wie die Anruferin wohnte, war nicht wie üblich gegen neun Uhr aufgestanden. Von oben hörte man keine Geräusche, auf die Türklingel reagierte sie nicht. Und im Wohnzimmer brannte Licht, wie man vom Garten aus erkennen konnte. Die letzte Zeile der Notiz lautete: »Weitergel. an KDD 9:56.« Weitergeleitet an den Kriminaldauerdienst um neun Uhr sechsundfünfzig.
Die angegebene Anschrift, Gundolfstraße, sagte mir nichts. Ich setzte mich an meinen PC und bemühte erneut das Internet. Das Haus, in dem Viktoria Hergarden gestorben war, lag im Westen Neuenheims. Ein gesichtloses Mehrfamilienhaus aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren wie tausend andere in dieser Stadt.
Noch etwas überprüfte ich bei dieser Gelegenheit: Ich meinte nämlich, den Namen Holland erst kürzlich gelesen zu haben. Und richtig: Bei der kleinen Theateraufführung zwei Jahre vor Viktoria Hergardens Tod hatte eine S. Holland die Charlotte gespielt. Der Vorname passte nicht, denn die Anruferin hatte Elisabeth geheißen. Aber vielleicht gab es da doch irgendeine Verbindung. Den Eduard hatte ein M. Graf gespielt, las ich bei dieser Gelegenheit, dessen Name weiter unten noch einmal auftauchte. Er hatte auch Regie geführt.
Ich fuhr meinen Klapper-PC herunter, legte mich im Bademantel aufs Bett und schmökerte weiter in der Akte. Zwei Kollegen vom Kriminaldauerdienst hatten den Ort des Geschehens um zehn Uhr vierzehn erreicht, nur zwanzig Minuten nach dem Anruf, und unverzüglich begonnen, den Fall zu besichtigen.
Ich betrachtete die Fotos, auf denen eine erschreckende Menge Blut zu sehen war. Der billige Couchtisch, auf den die junge Schauspielerin so unglücklich gestürzt war, hatte ein silbernes Metallgestell und eine dunkle Rauchglasplatte gehabt. Letztere war bei dem Sturz in Scherben gegangen, und eine dieser Scherben hatte sich in den Hals der jungen Frau gebohrt.
Sönnchen hatte recht gehabt: Viktoria Hergarden war eine attraktive Frau gewesen. Eine Frau, die außerdem jünger aussah, als sie war. Anhand der Fotos hätte ich sie auf maximal zwanzig Jahre geschätzt. An jenem unseligen Abend hatte sie ein dunkelblaues Nachthemdchen getragen, das mehr enthüllte als verdeckte, und nichts darunter. Vermutlich war sie im Begriff gewesen, zu Bett zu gehen, als sie stürzte. Ein großer Teil ihres glänzend schwarzen, vollen Haars schwamm in der Blutlache. Am schlanken Hals hing ein goldenes Kettchen mit einem Medaillon. An den bloßen Füßen Pumps mit hohen Absätzen, ebenfalls schwarz und mit Glitzersteinchen. Einer der Schuhe, der linke, lag zwei Handbreit vom Fuß entfernt auf einem kleinen weißen Flokatiteppich, der Falten warf, als wäre er auf dem glatten Fischgrätparkett verrutscht. War vielleicht
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