Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
Minuten später waren wir zu dritt, und ich musste feststellen, dass das Personengedächtnis meiner Sekretärin wesentlich besser war als meines.
»Die Nase länger, die Augen ein bisschen weiter auseinander, ja, genau so, und die Augenbrauen …«, ratterten ihre Anweisungen wie aus einem Maschinengewehr, die die blutjunge Kollegin vom Erkennungsdienst mit ebensolcher Schnelligkeit umsetzte, während ich hie und da immerhin einen kleinen Verbesserungsvorschlag anbringen konnte. Am Ende waren wir alle zufrieden mit uns, und ich war verblüfft, nun tatsächlich das Gesicht des Mannes vor mir zu sehen, der mir vor fast einer Woche gegenübergesessen hatte. Und dann – von einer Sekunde auf die nächste – war ich mir sicher, dass dieser Mann mit den ausgeprägten Tränensäcken bei meinem Fahrradunfall anwesend war. Dass sein Gesicht sich immer wieder in meine Flashbackerinnerungen gemogelt hatte, beruhte nicht auf einem Kurzschluss irgendwelcher erschütterter Synapsen, sondern darauf, dass ich ihn tatsächlich gesehen hatte. Da waren zwei Männer gewesen, jetzt war ich mir sicher. Und der andere, der im dunklen Anzug, hatte mich gestoßen. Aber welche Rolle hatte Hergarden bei dem unerfreulichen Zusammentreffen gespielt?
»Herr Gerlach?«, hörte ich Sönnchens zaghafte Stimme.
Ich erschrak. »Ja?«
»Was er angehabt hat?«
»Angehabt?«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch besser im Bett liegen sollten? Oder vielleicht mal kurz in die Uniklinik? Die haben da ganz tolle Spezialisten für Kopfver…«
»Quatsch!«, fuhr ich ihr in die Parade. »Mir geht’s super. Mir war nur gerade was eingefallen.«
Die Kollegin am Laptop betrachtete mich in einer Mischung aus Respekt und Neugierde. Wer weiß, welche Schauergeschichten Sönnchen über mein kleines Missgeschick verbreitet hatte.
»Angehabt?« Ich räusperte mich. »Keinen Mantel. Obwohl es ziemlich kalt war an dem Tag. Ein kariertes Hemd und eine schwarze Lederjacke. So eine Rockerjacke mit Fransen und vielen Taschen und ohne Ärmel. Die hat ausgesehen, als hätte er sie zum achtzehnten Geburtstag gekriegt.«
»Die Jacke hab ich auch gesehen«, bestätigte Sönnchen eifrig. »Schwarz ist vielleicht seine Lieblingsfarbe. Die Hose, die war nämlich auch schwarz.«
»Und die Schuhe. Schnürschuhe. Auch nicht mehr die Jüngsten.«
»Reich scheint er nicht zu sein«, meinte die junge Frau vor dem Laptop mit heller Stimme. Sie duftete nach einem frischen Parfüm und trug einen langen Rock aus sehenswert buntem Stoff.
»Im Gegenteil«, bestätigte ich. »Insgesamt hat er ziemlich heruntergekommen gewirkt.«
»Und ein bisschen öfter waschen könnte er sich auch«, ergänzte Sönnchen mit gerümpfter Nase. »Da fällt mir ein: An der rechten Hand hat er einen Ring getragen. Einen goldenen Siegelring mit roter Platte oder irgendwas in der Art. Der hat echt ausgesehen, der Ring. Echt und wertvoll.«
»Brille vielleicht?«, fragte die Kollegin mit dem langen blonden Haar konzentriert, während ihre Rechte unentwegt mit der Maus herumzuckte.
Ich schüttelte den Kopf. »Definitiv nein.«
»Er hat einen aber angeguckt, als wär er ein bisschen kurzsichtig«, gab Sönnchen zu bedenken.
»Dialekt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Akzentfreies Hochdeutsch.«
»So einen leichten Schlag ins Kurpfälzische hat er schon gehabt«, war meine eigensinnige Sekretärin überzeugt. »Außerdem hat er für mich geklungen … wie soll ich sagen?«
»Was wollen Sie denn sagen?«
»Wie wenn er lang im Ausland gelebt hätte. Sie wissen schon.«
Ich nickte. Jetzt, wo sie es sagte …
»Größe?«, fragte die Kollegin.
»Eins achtzig bis eins fünfundachtzig«, sagte ich.
»Mindestens eins fünfundachtzig«, sagte Sönnchen gleichzeitig.
»Statur?«
»Hager.«
»Einen krummen Rücken hat er gehabt«, wusste Frau Oberschlau. »Wenn der sich aufrecht hinstellen würd – vielleicht ist er sogar eins neunzig.«
»Na, das ist doch schon mal was.« Die duftende Kollegin klappte befriedigt ihren Laptop zu. »In zehn Minuten haben Sie das Kunstwerk im Posteingang, Herr Kriminaloberrat.«
Sönnchen gab sich Mühe, nicht allzu triumphierend zu grinsen.
»Und was machen Sie dann mit dem schönen Bild?«, fragte ich missmutig, als wir wieder unter uns waren.
»An Multiplikatoren verteilen.«
»Multiplikatoren?«
»Lassen Sie mich einfach machen«, sagte Sönnchen so milde, als spräche sie mit einem schon leicht debilen, aber ansonsten netten Greis. »Soziale Netzwerke
Weitere Kostenlose Bücher