Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)
bitte.“
Ihre Lippen kräuselten sich, erwartungsvolle Ungeduld. Seine Finger zitterten, als er den Stift aufsetzte. Er fühlte sich wie ein Eindringling, der sich anschickt, etwas Verbotenes zu tun. Er zeichnete die Kontur mit dünnen Strichen und schattierte die Vertiefungen in ihrem Gesicht. Ein kräftiges Schwarz begrenzte das Licht und ließ ihre Profillinie hervortreten. Er umriss die Halsgrube, den Ansatz ihrer Schultern. Abrupt setzte er ab, als er spürte, dass er sich in Details zu verlieren begann. Er ließ den Bleistift fallen und griff nach seinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war.
Als er aufblickte und Helenes Blick auffing, wusste er, dass er eine Grenze überschritten hatte.
In ihren Augen lag Bewunderung, die ihm schmeichelte, und noch etwas anderes, das er herbeigehofft und zugleich gefürchtet hatte.
Aber er durfte dem nicht nachgeben.
Noch nicht.
Zuerst musste er die Voraussetzungen schaffen, um ihr auf Augenhöhe begegnen zu können. Dieses Mal wollte er alles richtig machen.
27
Schwerfällig sank ein Müllsack nach vorn. Henryk fing ihn auf und stieß ihn zurück an die Wand. Durch die weit aufgestoßenen Fenster des Ateliers strömte warme Luft. Er stützte die Fäuste in die Hüften und betrachtete den Haufen Plastiktüten neben der Tür. Von der Anstrengung der vergangenen Stunden klebten ihm die Locken schweißnass im Nacken.
Die Steine unter seinen Fußsohlen waren feucht. Er hatte zum dritten Mal den Boden gewischt, weil das Wasser im Eimer sich immer noch schwarz färbte von altem Dreck.
Ihn erfüllte tiefe Befriedigung, wie sie sich nur nach schwerer körperlicher Arbeit einstellt. Die Zeitungsstapel hatte er gebündelt und in Säcke gepresst, zusammen mit dem Blumengestrüpp und den Verpackungen aus der Küche.
Mit einem groben Schwamm hatte er die Erinnerungen fortgewischt. All die Schatten, die wie Spinnweben in den Ecken klebten. Nur leiser Chlorgeruch blieb zurück.
Vor dem Tisch stand die Vermeer-Staffelei.
Am Morgen hatte er mit der Untermalung des Hintergrunds begonnen. Die Wände in einem getönten Weiß, die Tischdecke mit Mennige, dahinter den Fenstervorhang in Graustufen. Mit Unbehagen stellte er fest, dass seine Vorräte an Mennige-Pulver beinahe aufgebraucht waren. Er musste mehr davon herstellen, aber schob es vor sich her. Dabei hatte er nun die Wohnung in St. Gilles und war nicht mehr gezwungen, in den giftigen Dämpfen zu schlafen.
Dennoch, allein die Erinnerung weckte Widerwillen. Gestank, der die Kehle verengte. Ein durchdringender Nebel, der sich in jeder Ritze festkrallte und noch Tage später in der Luft hing.
Er hob seine Jacke vom Boden auf, schüttelte sie aus und legte sie über den Stuhl. Dann bemerkte er, dass etwas aus der Tasche gefallen war.
Die Serviette.
Er erinnerte sich gar nicht, sie eingesteckt zu haben. Die Zeichnung war zerknittert, ein wenig verschmiert und an der Seite eingerissen. Er hatte Helene gut getroffen. So gut, dass er sich selbst Respekt zollen musste für die rasch hingeworfene Skizze. Sie schien seinen Blick zu erwidern, den Kopf leicht gesenkt, eine Hand an der Wange, um das Haar zurückzuhalten.
In ihren Mundwinkeln saß der Anflug eines Lächelns, ein für sie typischer Gesichtsausdruck. Immer sah sie aus, als würde sie gleich zu lächeln beginnen.
Am Abend nahm er die Arbeit an den Purpurgittern wieder auf. Während der Vermeer ein Tagbild war, gedieh dieses im Schutz der Dunkelheit. Er entkorkte eine Flasche Rotwein und stellte das Radio an. Sie spielten Lee Johnson, SandfloorCathedral .
Er vervollständigte die Zellen im oberen Bild. Wie Nester klebten sie aneinander. Wenn er sich zurücklehnte und die Augen halb schloss, lösten sich die Details zu leuchtenden Kaskaden auf. Das Licht loderte rot, verbrannte zu Weiß und kühlte sich ab zu Winterfarben.
Ein faszinierender Effekt. Er versuchte, zwischen der Gesamtkomposition und den Einzelteilen hin und her zu fokussieren. Er trat dicht heran, bis seine Wimpern fast die Leinwand berührten.
Zwischen seinen Pinseln fand er einen, der so fein war, dass er die Haare kaum spürte, wenn er damit über seinen Handrücken strich. Er tauchte ihn in helles Grau und suchte eine Stelle auf der Leinwand, an der die Farbe getrocknet war, damit er seinen Handballen auflegen konnte. Mit kleinen Bewegungen modellierte er Punkte und mikroskopische Fäden, die zu einem räumlichen Gebilde verschmolzen. Eine Landschaft wuchs im Tunnel,
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