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Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman

Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman

Titel: Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry , K. Schatzhauser
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lernen, zu kauen und zu schlucken, aber Ihr müsst Geduld haben.« Sie hoffte, dass sie mit dieser Voraussage Recht behielt. Mit dieser Art von Verstümmelung hatte sie nicht die geringste Erfahrung.
    »Wir danken Euch«, sagte der Priester, der sie geholt hatte, mit bewegter Stimme. »Wir werden Euch stets in unsere Gebete einschließen.«
    Sie wachte lange bei dem Verstümmelten und seinen Mitbrüdern und hörte, wie sie versuchten, einander Mut für das zuzusprechen, was dem Mann bevorstand und ohne
weiteres jedem von ihnen drohen konnte. Nikodemus war der Erste, würde aber sicher nicht der Letzte sein.
    »Wer hat das getan?«, fragte sie und fürchtete die Antwort.
    Die Mönche sahen einander an. Dann erklärte einer: »Das wissen wir nicht. Männer sind im Auftrag des Kaisers gekommen. Angeführt hat sie ein Ausländer, ein römischer Priester mit hellen Haaren und Augen wie das Meer im Winter.«
    Er atmete langsam ein und aus, und seine Stimme wurde noch leiser. »Er hatte eine Liste.«
    Anna spürte, wie es sie kalt durchfuhr. Es kam ihr vor, als verlasse sie alle Kraft. Es war falsch gewesen, an Konstantinos’ Worten zu zweifeln. Jetzt begriff sie, dass ihre Feigheit sie gehindert hatte, sich der Wahrheit zu stellen; sie hatte sich die Hände nicht schmutzig machen wollen. Sie schämte sich ihrer Dummheit.
    Der Glaube verlangte einen hohen Preis – der Glaube an Gott, das Licht und die Hoffnung. Jemanden zu kreuzigen war ein barbarischer Akt. Der bloße Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit, die Vorstellung, wie er nach Luft rang, der Schmerz in seinen Lenden und allen Sehnen, das fürchterliche Entsetzen. Wie kam es, dass das auf Abbildungen weniger schrecklich erschien – als wäre Christus nicht Fleisch wie alle anderen gewesen, als wäre Sein Leiden anders gewesen? Die Antwort lag auf der Hand: Dahinter stand der Wunsch, nichts davon zu wissen, weil damit der Verrat an ihm leichter fiel.
    Unvermittelt erfüllte sie die sonderbar friedvolle Gewissheit, dass sie den Bischof falsch eingeschätzt hatte, als sie ihn für unwissend und oberflächlich hielt und annahm, seine Befürchtungen seien übertrieben. Tiefe Reue überwältigte
sie. Sie alle würden kämpfen müssen, zu Waffen greifen, die sie selbst ebenso verletzen würden wie den Feind. Doch der Widerstreit in ihr war zu Ende, stattdessen empfand sie eine unerschütterliche Gewissheit.
    Auch später wurde sie wieder zu Mönchen gerufen, die man gefoltert hatte, doch bei keinem empfand sie dasselbe Ausmaß an Panik wie bei jenem ersten, Nikodemus. Es gelang ihr nicht, alle zu retten. In manchen Fällen konnte sie nichts weiter tun, als ihr Leiden zu lindern und ihr Sterben zu begleiten.
    Es war ihr zuwider, wenn man ihr sogar in Fällen dankte, in denen sie nichts hatte bewirken können. Sie fand sich nicht tapfer und wäre am liebsten davongelaufen. Doch ihr war klar, dass die Alpträume, unter denen sie leiden würde, wenn sie einen Sterbenden sich selbst überließe, schlimmer wären als jedes noch so große im wachen Zustand erlebte Entsetzen.
    Nachts warf sie sich auf ihrem Lager herum und wurde häufig mit von Tränen nassem Gesicht und so heftig keuchend wach, dass ihre Lunge schmerzte. Dann kniete sie nieder und betete: »Vater im Himmel, hilf mir, unterweise mich. Warum lässt Du das zu? Es sind gute und friedliche Menschen, die Dir Tag für Tag von ganzem Herzen und mit all ihren Kräften zu dienen versuchen. Warum kannst Du ihnen nicht helfen? Oder liegt Dir nichts an ihnen?«
    Nichts als die Stille der Nacht antwortete ihr.
    Einmal entkam sie selbst den Männern des Kaisers nur mit knapper Not, als sie in ihr Haus einbrachen. Sie lief davon, von anderen, die sich ebenso glühend wie sie gegen den Zusammenschluss stellten, halb durch die Hintertür hinausgezerrt. Sie alle waren bereit, ihr Heim und ihren Besitz aufzugeben, um die Mönche zu retten, die nach wie
vor gegen das Vorhaben predigten und die man um ihres Glaubens willen zu Blutzeugen machte.
    Sie eilte mit ihren Rettern durch Wind und Regen, stieß in der Dunkelheit gegen Mauern und stolperte über Stufen. Sie wurde mitgezogen, während jemand ihre Tasche und ihre Instrumente trug. Sie hatte keine Vorstellung davon, wo sie waren, empfand nichts als Dankbarkeit für den Mut dieser Menschen.
    Als sie schließlich in einen stillen Raum gelangten, in dem eine alte Frau allein am Feuer saß, erkannte sie im Licht der Fackeln, dass ihre Begleiter zwei Männer und eine junge Frau

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