Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
weiter hinzu.« Sie spürte, wie sich ihr fast der Magen umdrehte. »Ihr habt ihn gefunden. Da Ihr in der Dunkelheit nicht sehen konntet, wie schlimm er zugerichtet war, habt Ihr mich gerufen, weil Ihr mich kennt und angenommen habt, ich könnte noch etwas für ihn tun.«
Sie ging rasch fort. Kaum war sie um die Ecke, musste sie sich übergeben. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie weitergehen konnte. Bis zu dem Haus, in dem Giuliano lebte, war es weniger als eine Meile. Da der Zeitpunkt seiner Verabredung mit Grigorios längst vorüber war, war er inzwischen sicher zurückgekehrt. Bevor sie der Nachtwache den Vorfall meldete, musste sie ihm seinen Dolch zurückgeben.
Sie klopfte an die Seitentür des Hauses, hinter der er wohnte. Niemand antwortete. Sie versuchte es erneut und wartete. Nach einem dritten Versuch wollte sie gerade gehen, als sie ein Geräusch hörte. Die Tür öffnete sich, Lichtschein fiel heraus.
»Giuliano?«, fragte sie.
Verblüfft öffnete er die Tür weiter. »Anastasios? Was habt Ihr? Wie seht Ihr aus! Kommt herein.« Er hob die Laterne, damit sie sehen konnte. »Seid Ihr verletzt? Lasst mich …«
Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass sie mit Straßenschmutz und Grigorios’ Blut bedeckt war. »Mir fehlt nichts!«, sagte sie knapp. »Schließt die Tür … bitte.«
Mit wirrem Haar stand er im Nachthemd vor ihr, als komme er gerade aus dem Bett. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
Sie nahm den blutbedeckten Dolch aus der Tasche und hielt ihn so hin, dass er das Wappen sehen konnte. Die
Klinge war rot von Blut. Es war geronnen, aber noch nicht vollständig trocken.
Giuliano wurde bleich. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Ich habe ihn etwa eine Meile von hier auf der Straße gefunden«, sagte sie. »Neben Grigorios Vatatzes, der mit durchschnittener Kehle auf der Straße lag.«
Er setzte zum Sprechen an, brachte aber kein Wort heraus.
Sie berichtete ihm in knappen Worten, dass man nach ihr geschickt und was sie getan hatte. »Man wird es für einen Unfall halten. Säubert Euren Dolch. Weicht ihn in Wasser ein, bis nicht mehr die geringste Spur von Blut daran ist, auch nicht in den Vertiefungen des Wappens am Griff. Seid Ihr zu der Verabredung gegangen?«
»Ja«, sagte Giuliano mit rauer Stimme. Er musste sich räuspern, um das Wort herauszubringen. »Er war nicht da. Der Dolch gehört mir. Zoe Chrysaphes hat ihn mir geschenkt, weil er das Wappen meiner Familie trägt. Aber man hat ihn mir vor einigen Tagen gestohlen.«
»Ihr habt ihn von Zoe?«, fragte sie ungläubig.
Er begriff immer noch nicht. »Sie hilft mir … die Schwester meiner Mutter zu finden, die vielleicht noch lebt. Deswegen wollte ich mich mit Grigorios treffen. Er hatte mir geschrieben, dass er etwas über sie erfahren habe.« Mit der Laterne in der Hand ging er zu einer Truhe und kehrte mit dem Blatt zurück. Er hielt es ihr hin und hob die Laterne, damit sie es lesen konnte.
Was darauf stand, war letztlich unerheblich. Es war unverkennbar Zoes Handschrift. Zwar hatten die Buchstaben eine andere Richtung als sonst, wirkten kräftiger, männlicher, aber Anna erkannte die typischen Großbuchstaben.
Sie hatte Zoes Schrift oft genug auf Briefen und Anweisungen sowie auf Listen von diesem und jenem gesehen.
»Zoe Chrysaphes«, stieß sie mit leiser, aber wütender Stimme aus. »Ihr seid ihr auf den Leim gegangen!« Obwohl sie sich zu beherrschen versuchte, zitterte sie am ganzen Leibe. »Sie ist durch und durch Byzantinerin, und Ihr seid nicht nur Venezianer, sondern zu allem Überfluss ein Dandolo! Ihr habt Euch von ihr einen Dolch schenken lassen, den jeder als den Euren erkennen konnte? Wo hattet Ihr nur Euren Verstand?«
Er stand wie erstarrt da.
Sie schloss die Augen. »Betet zu Gott, dass Euch niemand fragt. Falls aber doch, bleibt bei der Wahrheit und sagt, dass Ihr das Haus verlassen habt. Vielleicht hat Euch jemand gesehen. Ich werde Euch nicht sagen, wo die Tat geschehen ist, weil Ihr das nicht wissen dürft. Erwähnt unter keinen Umständen den Dolch, hört Ihr, unter keinen Umständen. Ich denke, außer mir hat ihn niemand gesehen. Aber säubert ihn!« Ohne Giuliano noch einmal anzusehen, öffnete sie die Tür, trat in den Gang und dann auf die Straße. Dort eilte sie, am ganzen Leibe zitternd, zum nächsten zivilen Wachtposten. Dem Himmel sei Dank, dass sich das Ganze im venezianischen Viertel abgespielt hatte und die Wachleute es für nichts weiter als den Unfall halten
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