Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Klinge auf ihn richten sollen?«
»Ich denke, dass Ihr genau das getan habt«, gab er zurück. »Nur hat er es nicht gemerkt.«
Zoe zuckte die Achseln. »Dann sieht es ganz so aus, als ob auch er ein Opfer dieses Mordfalls ist. Es tut mir leid um Euch, da er Euer Freund zu sein scheint.«
»Er ist kein Opfer«, sagte Anastasios. »Die Obrigkeit ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Tod Folge eines tragischen Unfalls ist. Allem Anschein nach ist Grigorios im Dunkeln auf einer ihm unvertrauten Straße von einem Fuhrwerk erfasst und überfahren worden.«
»Und wer hat ihm dabei die Kehle durchgeschnitten?«, fragte Zoe mit ungläubigem Spott. »Das Pferd – oder das Fuhrwerk?«
Anastasios’ Gesicht ließ sich nicht ansehen, was er dachte. »Es ist wohl so, dass er mitten auf der Straße hingefallen ist. Eins der Wagenräder muss dabei seinen Hals zermalmt haben. Jedenfalls sah es mir ganz danach aus.«
»Und was ist mit Dandolos Dolch?«, fragte Zoe mit vor Hohn triefender Stimme. »Lag der auf dem Fuhrwerk? Oder hatte ihn womöglich der Kutscher mitgebracht?«
»Das muss jemand anders gewesen sein, der den Tatort auf der Stelle verlassen hat«, sagte Anastasios. »Da der Dolch aber verschwunden ist, hat das keinerlei Bedeutung. Niemand außer mir hat ihn gesehen. Soweit ich weiß, befindet er sich wieder in Giulianos Besitz, und ich denke, er wird künftig besser darauf achtgeben.«
Es kostete Zoe große Anstrengung, nicht zu erbleichen und weder mit Blicken noch mit Worten etwas preiszugeben. Auf keinen Fall durfte Anastasios etwas merken.
Sie sah ihn an, seine zornsprühenden Augen, das kräftige und zugleich so unmännliche Gesicht mit dem weichen Mund, der auf Leidenschaft und Verletzlichkeit hinwies. Nein, er konnte nie und nimmer mit Dandolo verwandt sein. Zwischen den beiden gab es nicht die geringste Ähnlichkeit. Vielleicht war er mit der Familie von Dandolos Mutter verwandt? Auch das konnte nicht sein – Giuliano war in seiner Generation der Einzige. Eudoxia war kinderlos ins Kloster gegangen, und Magdalena lebte nicht mehr.
Ging es etwa um Liebe? Ein verstümmelter Eunuch – und ein Mann wie Dandolo?
Dann kam ihr der alles erhellende Gedanke wie ein Blitz, der die Dunkelheit zerschnitt und sie blendete. Es war ja so offensichtlich! Sie lachte laut auf. Natürlich, das musste die Lösung sein. Aber nein, es war unmöglich. Doch schließlich
glaubte sie es: Anastasios war keineswegs Eunuch, sondern ebenso sehr eine Frau wie sie selbst! Ihre Liebe zu Dandolo war dieselbe Liebe, die Zoe für ihn empfunden hätte, wenn sie im richtigen Alter und er kein Venezianer gewesen wäre. Oder vielleicht sogar auch dann, solange er kein Dandolo war.
Anastasios, oder wie immer sie heißen mochte, stand wie angewurzelt da und sah sie unverwandt an.
Zoe lachte in einem fort. Diese Person, die da vor ihr stand und die als halber Mann so traurig und verwirrend gewirkt hatte, ließ sich als Frau ohne weiteres verstehen.
Schließlich fasste sie sich, trat zum Wein und zu den Gläsern hinüber. Sie goss eines randvoll und hielt es einladend hin.
»Nein, danke«, sagte Anastasios kalt.
Achselzuckend leerte Zoe es zur Hälfte, füllte dann das andere Glas und hielt das erste erneut hin.
Diesmal nahm er es, leerte es bis zur Neige, setzte es auf den Tisch, wandte sich auf dem Absatz um und ging hinaus.
Zoe trank ihr eigenes Glas Schluck für Schluck genussvoll aus und überlegte. Sie hatte etwas überaus Wertvolles erfahren, was ihr unendliche Macht über Anastasios – nein, Anastasia – gab. Doch bevor sie daranging, diese ihr in den Schoß gefallene Macht zu nutzen, würde sie versuchen, möglichst viel über jene Frau in Erfahrung zu bringen, die sich entschlossen hatte, den bedeutendsten natürlichen Vorteil zu verleugnen, den sie besaß. Was mochte das sein, wofür sie bereit war, diesen fürchterlichen Preis zu zahlen?
Zoes Gedanken jagten sich. Die Frau hatte erklärt, sie komme aus Nikaia – aber stimmte das? Wahrscheinlich. Nur Dummköpfe erfanden unnötige Lügen. Je länger sie
darüber nachdachte, desto drängender wurden die Fragen. Welche Leidenschaft war so groß, dass sie jemanden veranlasste, eine solche Maskerade zu veranstalten?
Anastasia interessierte sich für Ioustinianos Laskaris. War Zarides ihr wahrer Name, oder war auch sie eine Laskaris und damit ebenfalls Angehörige einer kaiserlichen Familie? Ioustinianos’ Gattin? In dem Fall konnte sie ihn nicht sonderlich lieben, sonst
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